Der zerbrochene Spiegel oder Spieglein, Spieglein ... Notizen zu HAPPY DAYS

In den 90er Jahren war ich oft bei Freunden in Wakefield zu Gast, verbunden auf der Hin-oder Rückfahrt mit Kurzaufenthalten im Beckett-Archiv in Reading. Meine Freunde wussten von meiner amateurhaften Beckett-Forscherei und hatten jedes Mal etwas Überraschendes für mich parat. 1991 war es ein Common Prayer Book en miniature, laut Inschrift offenbar ein Weihnachtsgeschenk von einem Ehepaar Mr.&Mrs.Higgins 1922 "with very best wishes" und, wie ich jetzt sehe, verschenkt an  "Erika from Christel with love, Middlestown (near Wakefield) 23.7.1991". Das nächste Mal war es eine zweibändige Miniaturausgabe, ledergebunden, im Schuber, Hymns Ancient and Modern, und als zweites Bändchen eine Oxford-Ausgabe vom Prayer Book. Nun konnte ich Beckett-relevante Stellen darin nachlesen.

Eine dritte Überraschung war ein Miniaturband von der Nachfolge Christi von Thomas von Kempen - deutsch, vom Verlag A.Riffarth in Mönchen-Gladbach und New York gedruckt - und in Wakefield auf dem Trödelmarkt gefunden. Straelen liegt bekanntlich nur 15 km von Kempen entfernt, wo der Reformer und Mystiker 1330 geboren wurde. Auf dem Kirchplatz in seiner Heimatstadt sitzt er mit seinem Buch, das mit über 3000 Ausgaben in fast alle Kultursprachen das am meisten verbreitete Buch ist. Beckett schreibt über seine Lektüre der Imitatio Christi an seinen Freund Thomas MacGreevy am 10.3.1935 aus London (siehe Briefe 1929-1940)

Interessanter Zusatz zu Thomas à Kempis in Boswell's Life of Johnson S 353:

            "I mentioned that I had seen in the King's library sixty-three editions of my favorite Thomas à Kempis, amongst which it was in eight languages, Latin, German, French, Italian, Spanish, English, Arabic and Armenian, he said,  he thought it unnecessary to collect many  editions of a book, which were all the same, except as to the paper and print: he would have the original, and all the translations,  and all the editions which had any variations in the text.." (17th May 1784)

 

Im gerade neu aufgestellten Beckett-Archiv in Straelen finde ich jetzt auch wieder den Band Irish Folktales, herausgegeben 1985 von Henry Glassie, darin ein Zeitungsausschnitt aus dem Guardian: "Inventing a world of marvels", vom 1. Mai 1987, am Rand vermerkt "Erika".  Ich habe diese Volksmärchen bei meiner Freundin in Yorkshire gelesen, darunter "The First Mirror".

... Irgendwo in irischen Landen bestellte ein armer Bauer tagtäglich seinen Acker. Seine Hände sind immer voller Schwielen und Risse. Da hilft nur eins: Vaseline. Die Dose mit Vaseline hatte im Deckel einen winzigen Spiegel. Das Bäuerlein, für den Spiegel unbekannte Luxusartikel waren, warf hin und wieder einen gerührten Blick auf den Vaseline-Deckel in dem Glauben, darin das Bild seines Vaters zu sehen. Er hütete die Dose wie etwas Kostbares und hielt sie vor seiner Frau geheim, so dass diese irgendwann argwöhnisch wurde, sich eines Nachts aus dem Bett schlich, in die Jackentasche ihres Mannes griff und dann statt eines attraktiven Frauenbilds ein altes Weibsbild darin sah. Als sie ihren Mann am  nächsten Morgen nach der Alten auf dem Vaseline-Deckel zur Rede stellte, sah der Mann nach wie vor darin seinen Vater und weigerte sich, die Dose ins Feuer zu werfen, während seine Frau in dem Glauben blieb, eine Rivalin vor Augen zu haben. Erst als das Spieglein im Feuer zerbarst, trat wieder Ruhe ein.

 Bei dem Wort Vaseline denke ich unwillkürlich an HAPPY DAYS : Willie liegt in der prallen Sonne, und Winnie ermahnt ihn, in sein Loch zurückzukriechen. Willie, anfangs verkehrt rum, mit dem Kopf zuerst, schafft es schließlich, rückwärts kriechend, vergisst aber seine Vaseline und dann auch noch den Deckel. Er kriecht wieder los, wieder verkehrt herum. "Runter mit dem Hintern!" ruft Winnie ihm zu. (Keep your tail down! / Bas les fesses, bon Dieu.) Vaseline mag sich als Sonnencreme bewähren, aber findet bekanntlich auch bei gewissen Praktiken Verwendung. Winnies Befehlston gegenüber Willie - lt. Knowlson 'Ton einer Verkehrspolizistin" - klingt wohl eher nach dem einer Domina. Sie hatte ihn vorher angewiesen, sich gut einzureiben: "Work it well in, dear. /Pause./ Now the other."  Es bedarf keiner Erklärung, welche Körperteile damit gemeint sind.

Dass Beckett die Vaseline-Geschichte gekannt hat, scheint folgende Stelle zu bestätigen:

"... Save possibly, now and then, every now and then, a sigh into my looking-glass / De loin en loin un soupir dans la glace ...Pause/un temps. Or a brief ... gale of laughter, should I happen to see the old joke again/que d'aventure je la trouverais encore bonne. [es fehlt im Frz. das Wort 'Witz/joke']

Zu meinem Erstaunen entdecke ich in diesen Tagen zufällig in Richard Ellmanns Bändchen "Vier Dubliners" - Wilde, Yeats, Joyce, Beckett - bei Joyce die gleiche Spiegelgeschichte, die er Louis Gillet, dem Freund und Mitglied der Académie Francaise erzählt haben soll. Das Stichwort ist hier nicht Vaseline. Für Joyce implizierte die Geschichte viele Deutungen, so die, dass der Mann pietätvoll und die Frau eitel sei. Doch die Hauptsache war die, dass ein Spiegel, der Natur vorgehalten, immer das Bewusstsein seines Besitzers ebenso reflektieren wird wie das reflektierte Bild. Er konnte zustimmend Walter Paters Bemerkung zitieren (16.5.1907): "Kunst ist Leben, gesehen durch ein Temperament."

Hier die Geschichte in den Dubliners: (suhrkamp taschenbuch 2684, 1996, Übers.Wolfgang Held)

            "Es ging da um einen alten Mann, der von Geburt an auf einer der Blasket-Inseln gelebt hatte und nichts vom Festland und den dortigen Sitten wusste. Bei einer Gelegenheit aber wagte er sich hinüber und fand in einem Kramladen einen kleinen Spiegel, ein Ding, das er sein Lebtag noch nicht gesehen hatte. Er kaufte es, streichelte es, sah hinein, und wie er zur Insel zurückruderte, nahm er es aus der Tasche und starrte noch tiefer hinein und murmelte: "O Papa! Papa!" Er verwahrte den kostbaren Gegenstand eifersüchtig vor den Blicken seiner Frau, doch ihr fiel auf, dass er etwas vor ihr verbarg, und sie wurde misstrauisch. Eines heißen Tages, als sie auf dem Feld bei der Arbeit waren, hängte er seine Jacke an eine Hecke. Sie ergriff die Gelegenheit, eilte herzu und zog aus der Tasche den Gegenstand, mit dem ihr Mann so heimlich tat. Doch als sie in den Spiegel blickte, rief sie aus: "Ooch, ist ja bloß ein altes Weib!" und warf ihn zornig weg, so dass er an einem Stein zerbrach."

Dass der Spiegel an einem Stein zerbrach, führt mich zurück zu Winnie in HAPPY DAYS:

Winnie:  "... Ich nehme diesen kleinen Spiegel, ich zerschmettere ihn an einem Stein - sie tut es - ich werfe ihn weg - sie wirft ihn weit hinter sich - er wird morgen wieder im Sack sein, ohne einen Sprung, um mir durch den Tag zu helfen. (Pause.) ... "

 

Nachtrag

Unter den Notizen, die ich 2011 aus  Anlass der 50-Jahrfeier der Erstaufführung im Berliner Schillertheater machte, finde ich jetzt einen zweifellos relevanten Hinweis auf RICHARD II, Akt 4,1:

            Richard:          Go some of you, and fetch a looking-glass ...

                                   (Enter attendant with a glass)

                                   Give me that glass, and therein will I read.

                                   No deeper wrinkles yet? Hath sorrow struck

                                   So many blows upon this face of mine

                                   And made no deeper wounds? O, flattering glass,

                                   Like to my followers in prosperity,

                                   Thou dost beguile me. Was this face the face

                                   That every day under his household roof

                                   Did keep ten thousand men? Was this the face

                                   That like the sun did make beholders wink?

                                   Is this the face which faced so many follies,

                                   That was at last outfaced by Bolingbroke?

                                   A brittle glory shineth in this face.

                                   As brittle as the folly is the face,

                                   (he throws the glass down)

                                   For there is, cracked in an hundred shivers.

                                   Mark, silent King, the moral of this sport:

                                   How soon my sorrow hath destroyed my face.

            Bolingbroke    The shadow of your sorrow hath destroyed

                                   The shadow of your face.

            Richard           Say that again!

                                   'The shadow of my sorrow' - ha, let's see.

                                   'Tis very true. My grief lies all within,

                                   And these external manner of laments

                                   Are merely shadows to the unseen grief

                                   That swells with silence in the tortured soul.

                                    There lies the substance; and I thank thee, King,

                                   For thy great bounty, that not only givest

                                   Me cause to wail, but teachest me the was

                                   How to lament the cause. I'll beg one boon,

                                   And then be gone and trouble you no more ..."

 

   Im Beckett-Text zwei kleine Hinweise auf diese Shakespeare-Stelle: Winnie sagt hier: looking-glass , nicht mirror, was mich zunächst zu Alice in Wonderland  - Through the Looking-glass -> Winnie in Wonderland - führte. Winnies Selbstgespräche und andere Textstellen (who in the world am I?") legen auch diesen Gedanken nahe. Bei Shakespeare heisst es  glass - looking-glass.