Übersetzernachlass in Straelen, Südwall 7

Les archives du traducteur dans sa maison à Straelen

The complete archives of a translator located in Straelen, Germany

Rabelais

Berlin, 19.11.09

Rabelais

Auszüge aus Vorträgen:

In Claude Simon oder die Kunst, vom Tausendsten immer wieder ins Hundertste zu kommen, S.14:

„… Freilich muss man sich anfangs zu dieser Art Aufzeichnungen zwingen und den Einwand überwinden, den Pantagruel macht, als Panurge vorschlägt, einige von den gefrorenen Worten in einer Marinade aufzubewahren so wie man Schneebälle konserviert. Es sei doch töricht, sagte darauf Pantagruel, einen Vorrat von etwas anzulegen, das einem nie fehlen wird …“

Meine eigenen Erinnerungen:

1968 das Jahr spektakulärer Ereignisse in Paris. Es begann mit „Mai ‚68“ und führte so weit, dass Jean-Louis Barrault , der seit 1959, zusammen mit seiner Frau, Madeleine Renaud, die Leitung des Théâtre de France im Odéon inne hatte, das er 1964 zum Theater der neuen Generation und der Jugend proklamierte,diese weltbekannte Spielstätte aus politischen Gründen verlassen musste. Seine Antwort auf diese Maßnahme war Rabelais. Er sammelte eine vielfältige Spielmannschaft um sich, mit der er in den Catchring am Montmartre zog. Dort inszenierte er eine Collage nach dem Renaissance-Roman Gargantua und Pantagruel von Rabelais, (( in dessen allegorischer Struktur er die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart spiegelt. Eine vielbedeutende, spielerisch-mythologische Gleichzeitigkeit wird hergestellt, sprachliche Fülle umgesetzt in Bilder und rhythmisch geordnete Szenen.)).

Wir „Landbewohner“ versäumten es, uns die Inszenierung anzusehen, nicht ahnend, dass ein Jahr später der Fischer TheaterverlagElmar mit der Übersetzung der Barrault’schen Fassung beauftragen würde. Wir hatten im Sommer 1968 an der Loire Ferien gemacht, belastet mit der Übersetzung von Becketts Watt, und es nicht einmal fertig gebracht, zuRabelais’ Geburtsort La Devinière in der Nähe von Chinon zu pilgern. Beckett war 1926 als junger Student von Tours aus dorthin geradelt. Mitte der dreißiger Jahre griff er wieder zu den vier Büchern von Rabelais und studierte sie so gründlich, dass manche, wie sein Biograph James Knowlson berichtet, seinen Einfluß in Murphy zu erkennen glaubten ((„the book is in the true Rabelaisian vein – that is to say, it is the rare and right combination of learning and license.“, Knowlson Damned to Fame, S.217)) Dreiundzwanzig Seiten Notizen zeugen von Becketts intensiver Rabelais-Lektüre. Hätte Elmar das damals gewusst! Ich glaube nicht, dass die Rabelelais-Übersetzung damals bei Beckett überhaupt zur Sprache kam.

Wir hatten Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault bis dahin nur auf der Bühne gesehen, vor allem natürlich als Winnie und Willie in Becketts Oh les beaux jours/Glückliche Tage. Winnie in „Glückliche Tage“. Die Wochen – und Monate – in denen die Rabelais-Übersetzung entstand, brachten auchuns „Glückliche Tage“. Es war nach Murphyund Watt ein Kontrastprogramm, eine regelrechte Befreiung aus dem streng gesetzten Rahmen der Beckett-Texte. Elmar schwelgte in Wort- und Reimfindungen für die bilderreiche Sprache und die rückhaltslose drastisch-derbe Darstellungskunst nach Art eines Pieter Bruegel. Gleich in der ersten Szene ist von Räucherschinken aus Bayonne und Mainz die Rede, Anlass genug, um bei Elmar die Vorstellung zu wecken, das Stück könnte 197- bei der --- Jahresfeier der Mainzer Universität auf dem Marktplatz vor dem Mainzer Dom seine deutsche Erstaufführung finden. Es schien den Veranstaltern zu gewagt. Man begnügte sich mit einem Musenalmanach. Später hätte er es gern auf dem neu gestalteten großen Straelener Marktplatz inszeniert, aber auch dazu ist es nicht gekommen. Wurde es je auf einer deutschen Bühne gespielt? Ein Versäumnis, das man unbedingt nachholen sollte, denn die Übersetzung erscheint mir auch heute noch exzellent.

(( Hier das Nachwort des Übersetzers:

„Die jahrhundertelangen Bemühungen um die deutsche Rabelais-Interpretation gipfeln in den im Winkler-Verlag, München erschienenen Übersetzungen von Walter Widmer und Karl-August Horst. – Der Übersetzer der vorliegenden, von J.L.Barrault besorgten Bühnenfassung des Rabelaisschen Werks dankt allen, die nicht nur Auszüge aus den fünf Büchern Rabelais’ übersetzten, sondern nahezu das gesamte Werk des französischen Dichters in die deutsche Sprache übertrugen und es ausführlich kommentierten, für die empfangenen Anregungen. – Bei der Arbeit an diesem Bühnentext, der, ohne sich auf Erläuterungen oder Fußnoten stützen zu können, in wenigen Theaterstunden neue Rabelais-Freunde gewinnen soll, wurde versucht, aus der Not der Gattungsgesetze eine Tugend zu machen. Die Textgestaltungsmöglichkeiten, die sich aus der notwendigen Rhythmisierung der Repliken ergaben, wurden weitgehend genutzt, um jene Verluste auszugleichen, die bei der bloßen Übersetzung eines vor allem für die Lektüre bestimmten Textes unvermeidlich gewesen wären.))

Ich erinnere mich an eine etwas peinliche Situation in einem Pariser Bus, wo Philipp, unser 6-jähriger Sohn, auf einmal die Rabelaisschecontrepèterie „femme folle à la messe molle à la fesse“ zum besten gab, das klassische Beispiel, wie es in dem Nachschlagewerk Petit Robert steht :

Contrepèterie (Petit Robert) : (1582); de l’a. fr. contrepéter : rendre un son pour un autre.Interversion des lettres ou des syllabes d’un ensemble de mots spécialement choisis, afin d’en obtenir d’autres dont l’assemblage ait également un sens, de préférence burlesque ou grivois. Exemple :Femme folle à la messe pour molle à la fesse. (Rabelais)

Philipp hatte den zuhause so oft zitierten Vers in den Ohren, der schließlich zu der deutschen Formulierung führte: „eine olle Bigotte in der Messe ist oft eine tolle Motte im Bette.“

Weniger amüsant war das Heraussuchen von Zitaten aus den fünf Büchern Rabelais’. Barrault hatte sie nicht vermerkt!

Thélème :Die Überschrift eines Artikels über die Entstehung des EÜK: Un nouveau Thélème

zeigt, wie lebendig dieser Begriff in der französischen Sprache heute noch ist sowie die Vorstellung von einem idealen Ort, „wo Frauen und Männerunter dem Wahlspruch Tue, was du willst in eigener Verantwortung ihre geistige, charakterliche, gesellschaftliche und körperliche Ausbildung pflegen“ (Brockhaus Enzyklopädie).

((Petit Robert: abbaye de Thélème: Communauté mixte et aristocratique imaginée par Rabelais dans le Gargantua. Régispar le précepte « Fay ce que vouldras », ses membres spirituels et avisés, car « Science sans conscience n’est que ruine de l’âme » y cultivent l’épanouissement de la vie physique, intellectuelle et morale.))