FOOTFALLS/TRITTE/PAS

Die Aufführung von TRITTE im November 2017 in der Inszenierung von Walter Asmus an der Berliner Volksbühne regte mich dazu an, in unserem Archiv nach Material über diesen kurzen Theatertext zu suchen. Es ist viel darüber geschrieben worden, a ghost play, wie Beckett es nannte. Ich erwähne hier nur:

Theatre of Shadows   Rosemary Poutney

Rhétorique de Samuel Beckett     Bruno Clément 

Linda Ben-Zvi    Women in Beckett

Billie Whitelaw   Who He?

Alan Schneider    No Author better Served

und natürlich James Knowlsons Biographie Damned to Fame.

Bei mir entstanden beim wieder und wieder Lesen des Textes noch andere Assoziationen, die ich hier festhalten möchte.

FOOTFALLS/TRITTE/PAS

Die ersten Zeilen dieses rätselvollen Ein-Personenstücks schrieb Samuel Beckett am 2.März 1975 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Berlin. Er logierte im Atelier 1, 3.Etage. Las er dort wieder "Effi... unter Tränen ... wie im Winter 1968/69,  als er in der Schiller-Werkstatt Das letzte Band inszenierte?

"... Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal Effi las, eine Seite pro Tag, wieder einmal unter Tränen. Effi ... Pause. Hätte mit ihr glücklich sein können, da oben an der Ostsee, und die Kiefern und die Dünen. Pause. Nicht? Pause. Und sie? Pause. Bah! Pause. ..." 

('Kiefern u. Dünen' ein erotisches Bild)

Effi Briest gehörte  zu den deutschen Romanen, die Beckett buchstäblich am Herzen lagen. Er soll schon Ende der Zwanzigerjahre bei seinen Besuchen in Kassel auf Fontane aufmerksam geworden sein. Der Roman scheint später immer wieder eng mit der Erinnerung an seine geliebte Kusine Peggy verbunden zu sein, die, wie Effi, sehr jung an Tuberkulose starb.

Ruth Margaret Sinclair, Peggy, die Smeraldina, the green one, kurz auch Smerry genannt, ist in Becketts Werk allgegenwärtig, so auch in TRITTE. Und so auch der Mann, der sie liebte, Samuel Barclay Beckett, Bel oder Belacqua in seinem Frühwerk genannt. In der Gedankenwelt des Autors leben die Stimmen der geliebten Verstorbenen fort, in TRITTE die Stimme der Mutter May und ihrer Tochter Amy, in deren Namen sich das I am widerspiegelt.

Das Geschehen auf der Bühne beschränkt sich auf das Hin- und Hergehen von May, einer  geisterhaften Erscheinung, auf einem schwach beleuchteten neun Meter langen Gehstreifen. Jeder Schritt ein Meter. Anfangs waren nur sieben Schritte geplant, dann aber wurde ihre Zahl, angeblich aufgrund der Bühnenverhältnisse, zu neun erweitert. Wenn man sich den Gehstreifen als eine Messlatte vorstellt, bei der jeder Schritt von einem Meter Länge  zehn Lebensjahren entspräche, so wäre er eine Erinnerung an den 90.Psalm, Vers 10 :

 "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon."

Beckett stand kurz vor dem Beginn seines siebzigsten Lebensjahrs, als er mit  der Konzeption dieses Stücks begann, und er könnte sich, wie Proust am Schluss seines großen Werks, gefragt haben, wie man die Lebenszeit sichtbar und messbar darstellen könnte. Proust setzt sich auf den letzten Seiten der Wiedergefundenen Zeit, von Beckett in seinem Proust-Exemplar (digital library) angestrichen, mit dieser Frage auseinander, ein Meßstab, in die Höhe gehalten, würde wie eine Giacometti-Figur immer größer werden, "... je ne manquerais pas d'y décrire l'homme comme ayant la longueur non de son corps mais de ses années, comme devant, tâche de plus en plus énorme et qui finit par le vaincre, les traîner avec lui quand il se déplace."

In der Bühnenanweisung wird May als eine Figur dargestellt, die in ein bodenlanges Gewand aus grauen Fetzen gehüllt ist, eine dunkle unheimliche Gestalt, die mit schleifendem Rock hin und hergeht, deren Füße zu hören, aber nicht zu sehen sind. Man könnte einen Moment an

Innstettens 'Angstapparat' denken, der Effi nicht schlafen lässt: "Es war über mir ein ganz sonderbarer Ton, nicht laut, aber doch eindringlich. Erst klang es, wie wenn lange Schleppenkleider über die Diele hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paar Mal, als ob ich kleine weiße Atlasschuhe sähe ...". (In der Bühnenanweisung heißt es zu May: "... abgetragener grauer Umhang, der die Füße verdeckt und über den Boden schleift.")

Was zeigt sich in dem Hin und Hergehen? Eine innere Unruhe und das Warten darauf, wieder zur Ruhe zu kommen oder dass etwas, worauf man wartet, eintrifft. Im Französischen  nennt man das faire les cents pas, und der französische Titel für Footfalls lautet auch kurz und bündig Pas.

Warum im Deutschen Tritte und nicht Schritte? Warum im Original nicht Steps sondern Footfalls? Das Wort ist gewichtiger, man hört, wie die Füße aufsetzen. Es ist das im Werk immer wiederkehrende fallen: All that fall/Alle die da fallen, und hier im Text footfalls/ at nightfall und die Alliteration zu dem wiederholten it all.

TRITTE ist ein Ein-Personenstück, aber aus dem Dunkel der Hinterbühne ertönt im Dialog mit May eine Frauenstimme (F), die Stimme der pflegebedürftigen alten Mutter:

 "Soll ich dir deine Spritze geben, dich umbetten, deine Kissen glattziehen, dein Laken wechseln, dir das Stechbecken reichen, die Wärmflasche, deine Schwären versorgen, dich abwischen, deine armen Lippen befeuchten, mit dir beten? Für dich? Noch mal?"

Man findet bei Proust auf den letzten Seiten der wiedergefundenen Zeit eine ähnliche bildhaft zu verstehende Szene zwischen Mutter und Sohn:

 "L'organisation de ma mémoire, de mes préoccupations était lié à mon oeuvre ..., elle a été toujours dans ma tête, toujours la même, mêlée à mes souvenirs. Mais elle m'était aussi devenue importune. Elle était pour moi comme un fils dont la mère mourante trouve si fatigant d'avoir à s'occuper sans cesse, entre les piqures et les ventouses. Elle    l'aime peut-être encore, mais ne le sait plus que par le devoir excédant qu'elle a de  s'occuper de lui. Chez moi les forces de l'écrivain n'était plus à la hauteur des exigences égoistes de l'oeuvre..."

Ich finde bei Hans-Hagen Hildebrandt Becketts Proust-Bilder (S. 46) auch diese Stelle zitiert, und er fügt erklärend hinzu: "Im gleichen Maße, in dem das Werk Gestalt annimmt, saugt es die Kräfte des Erzählers in sich auf. "

James Knowlson schildert in seiner Biographie, wie überdrüssig Beckett der ewigen Proben von Godot bisweilen war, und zitiert aus einem Brief an Alan Schneider: "I'm sick and tired of theatre and of Godot in particular. To have to listen  to these words day after day has become torture."  Könnte das Verhältnis von Autor und Werk - bei Proust Mutter/Sohn, bei Beckett Mutter/Tochter - in dieser Weise ein Echo finden?

Es gibt einen Autor, dessen Werk Beckett schon in jungen Jahren sehr schätzte,  es ist der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer (1791-1872). Ob er ihn schon entdeckte, als er Peggy Sinclair im Oktober 1928 in Laxenburg bei Wien besuchte? In seinem Jugendroman "Dream of Fair to Middling Women" hat Beckett seinen  Aufenthalt in der Schule Dunkelbrau/Hellerau, wo Peggy Harmonie, Anatomie, Psychologie, Improvisation studierte, genau beschrieben. Weihnachten erwartet Peggy alias Smeraldina ihren Bel/acqua bei ihren Eltern in Kassel und schreibt ihm einen urkomischen Liebesbrief, Smeraldinas Billet-doux, in dem man viele Anspielungen auf die gemeinsamen Wochen in Österreich findet. Er/Sie schreibt: "To-day is one of the days when I see everything more clearer than ever and I am sure everything will go right in the end. Der Tag wird kommen und die stille NACHT!!!"

Als P.S. noch einmal : "One day nearer to the silent night!!!", wobei jeder auf den ersten Blick  an die stille Nacht, heilige Weihnacht denkt. In Wirklichkeit sind diese Zeilen dem 5.Akt von Grillparzers Trauerspiel Des Meeres und der Liebe Wellen entnommen: 

"Der Tag wird kommen und die stille Nacht,

 Der Lenz, der Herbst, des langen Sommers Freuden,

 Du aber nie, Leander, hörst du? nie!

 Nie, nimmer, nimmer, nie!"

Das Stück schildert die Liebe zwischen dem Fischerjüngling Leander und der jungen Priesterin Hero, ihr banges Warten am Ufer, ob es ihm gelingt, die Meeresenge zu durchschwimmen.

(Lord Byron durchschwamm sie am 8.Mai 1810. "Heute nacht", schreibt er seinem Freund Drury, "bin ich von Sestos nach Abydos geschwommen. Die eigentliche Entfernung beträgt nicht mehr als eine Meile, aber die Strömung macht es zu einem gewagten Unternehmen - so sehr, dass ich  mich frage, ob Leanders eheliche Kräfte auf seinem Weg ins Paradies nicht erschöpft worden sind. Ich habe es schon vor einer Woche versucht, und  es ist mißglückt - wegen des Nordwindes und der erstaunlichen Schnelligkeit der Strömung -, obwohl ich von Jugend an ein tüchtiger Schwimmer war. Aber heute morgen war es ruhiger, es ist gelungen, ich habe den 'breiten Hellespont' in einer Stunde und zehn Minuten überquert.").

Er schafft es, ein-, zweimal. Doch dann kommt eine stürmische Nacht. Das Licht oben im Turm, das ihm den Weg weist, erlischt, und Hero selbst sinkt in deep sleep. Sie hörte Tritte oben, jemand muss die Lampe gelöscht haben. Als sie erwacht, hat das Meer Leanders Leichnam angeschwemmt.

Es gibt noch einen anderen Hinweis auf Grillparzer und gerade auf diese Zeilen bei Beckett. Elmar Tophoven hat oft erzählt, dass er beim Vorlesen der Übersetzung von Malone meurt/Malone stirbt von Beckett an der Stelle unterbrochen wurde, wo von einem Herbstabend die Rede ist und von Blättern qui ont connu les longues joies de l'été .."  An dieser Stelle habe er an Grillparzer gedacht, sagte Beckett, und er zitierte den obigen Vers, so dass es im Einklang mit Grillparzer nun dort heißt: "... und die Blätter, die in der Luft wirbeln, wer weiß woher sie gekommen sind, denn hier gibt es keine Bäume, sind nicht mehr die ersten des Jahres, die gerade grün gewordenen, sondern alte, die des langen Sommers Freuden hinter sich haben ..."

Wenn in Tritte von der kleinen Kirche die Rede ist, in die M. bei Einbruch der Nacht durch die Nordpforte schleicht und hin und her geht, hin und her, Seinen armen Arm entlang", so ist es bei Grillparzer ein Tempel und in seinem Innern eine Bildsäule Amors, an deren Arm Hero ihren Blumenkranz für Leander hängt.

Die Gedanken an frühe glückliche Tage geistern durch Becketts Werk und klingen noch einmal an in dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter am Ende des Stücks. Über das Glück/De beata vita schreibt Augustinus, oft von Beckett zitiert, einen längeren Text. Es geht  um absence und présence, bei Augustinus um Leib und Seele und die Nahrung, die der Körper braucht, und welche die Seele. Dieser Frage geht er nach in seinem Text De beata vita/Über das Glück. Er diskutiert darüber in einer Frühstücksrunde mit Freunden und seiner Mutter an seinem Geburtstag. Die Mutter fragt einen Freund: "Hast du nicht heute selbst dargetan, aus welcher Quelle und an welchem Ort die Seele gespeist wird? Du sagtest doch, du hättest an irgend etwas anderes gedacht, und dennoch hattest du nicht gezögert zuzugreifen und von diesem Gericht zu essen. An welchem Ort befand sich denn nun dein Geist zu der Zeit, als er dies außer acht ließ, obwohl du doch aßest? Aus dieser Quelle und mit solchen Speisen nährt sich der Geist, das heißt von seinen Betrachtungen und seinen Gedanken, vorausgesetzt er kann dadurch etwas erfassen." 

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Ergänzende Notizen und neue Entdeckungen:

Zimmer in der Akademie der Künste, 3.Etage, Atelier 1

Lese dazu heute bei Knowlson (S. 568) über seinen Aufenthalt in der AdK  Ende August 1969 zur Inszenierung von "Das letzte Band" in der Schiller Werkstatt:

"Once more he stayed at the AdK. On the first morning he was awakened early by a sharp tap-tap-tap on his window. Getting out of bed and going over to the window he found perched on the window ledge an almost tame jackdaw (Dohle), a regular inhabitant of the Academy, he learned later, pecking at the glass. Would it were Edgar    Alan Poe's Raven, he commented; instead, it recalled for him the image in Krapp's Last Tape: the vidua or weaver-bird ... Black plumage of male ... the Vidua-bird." Danach ist es denkbar, dass die Tritte die eines Vogels waren. Er mag sich daran erinnert haben 1975 oder erlebte es noch einmal in demselben oder einem anderen Zimmer in der Akademie der Künste.

Die von Elmar mit Rotstift in das englische Typoskript eingetragenen zusätzlichen Worte lenkten meine Aufmerksamkeit auf das "evermore" -> Nevermore. Bei Poe ist es die Erinnerung an LENORE, Schauerballade von Gottfried August Bürger (1774), bei Beckett an Peggy und "it all"

 

"a ghost play ... the Holy Ghost ...

Evermore ... never more ... Nie - nimmer-nimmer-nie (Grillparzer)

Die Wiederholungen in "The Raven" -> Tritte ...  z.B. "... Will you never have (Pause) Will you never have done revolving it all? - It? - It all. - In your mind. - It all. - It all.

In dem Gedicht "Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird and bust (Pallas Athene Büste) and door ...

Auch foot-falls kommt in The Raven vor.

"the dying mother scene", "pacing play"

Knowlson S. 616: Ixion on his wheel -_ "how feat she wheels" - linear und kreisförmige Struktur -  Winnies Revolver, Revolver in Love & Lethe - revolving - it all - mehrmals wiederholt - "das Leben"

Am 2.März Text für Bram v.V. für seinen 80.Geburtstag im Okt. 1976

(aus 7 Seiten wurde 1/2 Seite)

siehe WATT, Anfang Geburtsszene, Larry ... der "herausfällt" aus ihrem Schoß ... zu ihren Füßen.

Die Frage des Alters: How old is Larry now? said Mr. Hackett

How old is Larry, my dear? said the gentleman

How old is Larry, said the lady. Larry will be forty years old next March, D.V.  - (Und dann folgt die Beschreibung von Larrys Geburt)

Fontane: War es bei dieser Inszenierung, dass S.B. von Irrungen, Wirrungen sprach. Er kannte seinen Fontane.

TRITTE - das Wort auch bei Grillparzer statt "Schritte": "Zwar endlich hört' ich Tritte über mir. Doch leuchtete kein Licht in deiner Kammer. / Hero: Kein Licht! Kein Licht! ... Ich sollte wachen hier, doch schlief ich ein ... (wie die Jünger auf dem Ölberg)

Elemente: Das Licht, die Kerze, flackernd , der Schlaf (deep sleep)

... deine Lippen befeuchten, Schwamm ... (Kreuzigung)

The Raven: 18 Strophen, Refrain ist die Pointe - nevermore - Pathos und Melancholie.

Verstechnik bei Poe: Konvention und gezielte Innovation bei der Art, wie die Zeilen zur Strophe kombiniert werden und die Prinzipien von Reim und Alliteration erweiterte Anwendung finden.

Was Poe beschreibt, ist nichts anderes als die Selbstverwirklichung eines literarischen Gebildes, die er, der Autor, nur auf den Weg bringt: als Medium.