Gedankenspiele WATT

War es das ungewöhnliche Wort, das wie ein Zauberwort A-da-ka-da-bra klang, oder war es die Suche nach seiner Bedeutung als einm der wenigen Gegenstände in Mr. Knotts Musikzimmer? War es seine Form und der seltsame Vergleich mit einem - toten - Vogel? Ich wollte sehen, wie dieses Instrument aussieht und ging zum Museum für Musikinstrumente in Berlin. Kopfschütteln, ein Ravanastron unbekannt. 2015 schickte mir mein Sohn aus Paris ein Bändchen von Jean-Philippe Toussaint "L'urgence et la patience", darin ein kurzer Text LE RAVANASTRON, beginnend mit dem oben zitierten Satz, hier aus der französischen Übersetzung "Au mur, à un clou, tel un pluvier, pendait un ravanastron". Auch Toussaint stellt sich die Frage: "Un quoi?" "Was für ein Ding?" und bringt damit sogar den Verleger Jérôme Lindon in Verlegenheit. Toussaint deutet das Wort, seinen Gegenstand  und seinen Vergleich mit einem an der Wand hängenden Regenpfeifer (pluvier/plover) auf dichterische Weise, fasziniert von Klang und Form, aber nicht weiter nach einer Bedeutung im Gesamtbild des Musikzimmers suchend.

RAVANASTRON war auch sogleich das Stichwort, als ich zufällig Professor Franz Michael Maier kennen lernte, der in seinem Buch "Becketts Melodien" (Seite 210/11) folgende Erklärung fand:

            "Bei dem Ravanastron handelt es sich um ein archaisches indisches Saiteninstrument, um den "Stammvater aller Streichinstrumente". Es ist bedeutsam, dass das Instrument seinem Aussehen nach mit einem Vogel verglichen wird. Es erinnert an einen erjagten Phönix, der keine Töne mehr singt, sondern als Trophäe  an einem Nagel hängt wie ein abhängendes Rebhuhn."

Die Frage blieb mir auf den Lippen, und ich danke Frau Professor Olk, FU Berlin, die mich darauf hinwies, dass eine Bedeutung des Instruments vielleicht darin liege, dass es nur ZWEI Saiten hat.

Wie einfach und schnell  man im Abstand von wenigen Jahren sich seine Informationen aus dem Computer ziehen kann:  am 20.Oktober 2019 zog ich unter dem Stichwort RAVANASTRON  7 Seiten aus meinem Rechner. Jetzt weiß ich endlich, wie ein Ravanastron aussieht. Aber wie sieht ein toter Regenpfeifer aus, ist nach wie vor die Frage, und warum hängt das Instrument in Mr. Knotts Musikzimmer, in dem ich mich nun erst recht genauer umschaue.

Außer dem Streichinstrument an der Wand gibt es noch ein Klavier, das "in the window" steht, in einem verglasten Erker, wie Professor Maier vermutet und damit an Becketts Geburtszimmer denkt, das Beckett selbst in 'Company' folgendermaßen beschreibt:

            "You saw the light of day in the room you most likely were conceived in. The big bow window looked West to the mountains. Mainly west. For being bow it looked also a little south and a little north." Das Erkerzimmer in Becketts Elternhaus war also sein Geburtszimmer und vermutlich auch das Sterbezimmer seines Vaters. Ein Musikzimmer gab es nicht im Hause. Das Klavier stand, wie James Knowlson in seiner Biografie schreibt, im Wohnzimmer "to the left on the ground floor was the drawing room in which the piano was kept S.14/15). Und von Hausmusik ist weder in Becketts Elternhaus noch in Mr.Knotts Musikzimmer die Rede. Es ist ein wenig einladender Raum: 'a large bare white room'. Kein Mobiliar, weder Tisch noch Stuhl, nur ein verstimmtes Klavier, dem auch die beiden Klavierstimmer," the Galls, father and son" keine klaren Töne mehr entlocken können, denn die Mäuse waren wieder da, die die meisten Hammerköpfe und Dämpfer angefressen haben. "The piano is doomed, in my opinion", sagt der junge Gall. "Der Klavierspieler ebenfalls" . "Der Klavierstimmer auch", sagte der Ältere. "Der Klavierstimmer auch, sagte der Jüngere." Dies war vielleicht das Hauptereignis während Watts Anfangszeit in Mr. Knotts Haus.

Ein Streichinstrument, an einem Nagel, an der Wand hängend wie ein toten Vogel, der nicht mehr pfeift, und als drittes Element in diesem Musikzimmer "the head, and neck, in plaster, very white, of Buxtehude, on the mantelpiece / der schneeweiße Gipskopf und -hals von Buxtehude auf dem Kaminsims..Was soll eine Büste, ausgerechnet von dem grandiosen Orgelmeister Friedrich Buxtehude in Mr. Knotts Musikzimmer?  Liebte man in Becketts Elternhaus gerade Orgelmusik? War der Name dieses Organisten und Komponisten aus dem 17.Jahrhundert überhaupt über die deutschen Grenzen hinaus bekannt?  Sein Name ein Zungenbrecher. Selbst im Deutschen klingt er witzig. Es gibt ein Gesellschaftsspiel, das Mitte der Siebzigerjahre auf den Markt kam und mit seinem Titel "Ausgerechnet Buxtehude" sogleich Aufsehen erregte. Das Spiel bezog seinen Namen jedoch aus der kleinen Stadt Buxtehude, von der die meisten nicht so recht zu sagen wissen,  wo sie liegt - nördlich von Hamburg, südlich von Hamburg oder nordwestlich?  Von dem Organisten Buxtehude, der nichts mit der Stadt Buxtehude zu tun hat, werden die wenigsten sagen können, wo er geboren ist. Bekannt ist er als Organist in Lübeck, aber geboren ist er 1637 in Hälsingborg auf Elsenor, und er ist damit ein dänisch-deutscher Bürger. Er kam erst 1668 an die Marienkirche in Lübeck, von wo sein Ruf weit ins Land drang, so dass sich sogar Johann Sebastian Bach 1705 in Arnstadt/Thüringen zu Fuß nach Lübeck auf den Weg machte, um sechs Monate bei dem bewunderten Orgelmeister in die Lehre zu gehen. Aber WATT ist kein historischer Roman. Wie konnte der Autor Samuel Beckett in den Jahren 1941-1945 in Paris oder in der Ardèche auf die Idee kommen, einen Gipskopf dieses Organisten in Mr. Knotts Musikzimmer zu stellen?

Ich schrieb Ende der Neunzigerjahre an einem Buch "Becketts Wanderjahre in Deutschland", ohne von den German Diaries zu wissen, die nach Becketts Tod 1989 entdeckt worden waren. James Knowlson, der zur selben Zeit an seiner Biographie arbeitete, wusste davon und hatte selbstverständlich den ersten Zugriff. Mein Manuskript wurde zurückgestellt, und ich verlor die Lust daran. Stattdessen bekam ich von Edward Beckett, Sams Neffe und Nachlassverwalter, die Gelegenheit, das Hamburg-Tagebuch (2.10. - 4.12.1936) aus dem handschriftlich englisch verfassten Original in ein lesbares englisches Manuskript zu transkribieren, und die Erlaubnis, es in einer begrenzten Auflage von 150 Exemplaren als Kunstbuch, gestaltet von Roswitha Quadflieg, in ihrer Raamin Presse herauszubringen. Ich hatte für meine "Wanderjahre" die Stadt Hamburg schon gründlich durchforscht, aber von Becketts  Tagesausflug nach Lübeck am 3.11.1936 wusste ich natürlich vorher nichts. Mit seinen Aufzeichnungen von 1936 in der Hand, folgte ich jetzt Schritt für Schritt den Wegen, die Beckett 60 Jahre vorher gegangen war. Er schildert zuerst den Besuch des Doms, 'white and immense', das Memling Triptychon (I peer through the bars of the locked Kapelle at the closed masterpiece. At 2 I watch the clock, Sun, moon, death & angels clouting the Zeitglocken. The usual exquisite wood carving. An excellent tumbe of Bishop Heinrich v. Bocholt, life size, in bronze. North vestibule, ''Juwel des Uebergangsstils', leaves me, as whole visit in general. unmoved. But I shall never forget the Lübecker Dom nor the square without, the yellow tons & the Knaben streaming out.")

Nach einem starken Bier in einem Pschorr Lokal geht er zur Marienkirche . Also white, except for S vestibule, left original stone colour. Spurn guide wander wretchedly about looking for "Schwarze Maus an Baumwurzel nagend" - Wahrzeichen der Stadt -, Ysenbrandt & Van Orley Triftgehn & Totentanz. Finally seduced to doing a lap with Führer, beginning in Totentanzkapelle. Painted originally on wood (1453), with niederdeutsche Verse subrecited, now on cavas by Anton Wortmann with miserable hochdeutsch text (4 lines for every 1 in original) by Präzeptor Nathaniel Schott. God blast him. Death end a different form between every pair of morituri, from pope to child in cradle. Lübeck in background Totentanzorgel (!)  played by J.S.B., now only used on special occasions, e.g. broadcast, when it 'klingt ausgezeichnet'. Energetic mumble of awful Führer, a flesh & bone part, reciting Totentanztext in original & present forms, to bring out the loss. Tolerably fragments of glass E & W. Then see the black mouse, the astronomical clock , the triptychs of Ysenbrandt & Orley, misericordiae with seats of males to rest their bottoms when seat up & they 'standing' to women sitting.  Pair of high reliefs by Fischer, rueful comments on his maatrimonial experiences (4 wives) some story about his having to mary for the good of his business, didn't know but feel like reading up Fischer. Excellent Madonna & Child in stone. Picture of a ship from which one was later built, model in Schiffergesellschaft. Buxtehude, Bach's master for 6 months. Appaling late barock Messing- u. Bronze-Wandleuchter, and throughout visit a stunning &  wailing on upon defying description. Clash that with J.S.Bach. Crawl out exhausted at 4 and go to Ratskeller, where I eat a cheese sandwich & gulp a bottle of Nieder... (unleserlich)."

Was er gesehen hatte, war ein anderes Lübeck, denn die Innenstadt wurde bei einem Luftangriff in der Nacht zum Palmsonntag vom 28. auf den 29.M;ärz 1942  zu einem Fünftel zerstört  und die Marienkirche wie auch der Dom und die Petrikirche brannten fast völlig aus.    

Am Abend ist er wieder in Hamburg und zurück in der Pension Hoppe, unweit vom Dammtor, wo er sich 10 Wochen einquartierte.

War von allem Gesehenen das 'Monument von Buxtehude' das Eindrucksvollste, so dass er ihm Jahre später in Knotts Musikzimmer ein Denkmal setzen wollte?  Aus den obigen Notizen lässt es sich nicht herauslesen.

Ein paar Tage später trifft er sich in Hamburg mit einem Dänen, Henningsen, den er in der Nordischen Gesellschaft kennen gelernt hatte. Er lässt sich von ihm Andersen-Märchen auf Dänisch vorlesen. Offenbar war darunter auch das Märchen "The Tinderbox", denn in "Happy Days" bezeichnet Winnie die Augen von Willie "as big as teacups".  Henningsen erzählt ihm auch von einer Hamlet-Saga, 'in which no mention of Ophelia, & probabability of Shakespeare having been in Jutland on his way with troupe to Germany."

Hier nehmen meine Gedankenspiele eine konkrete Form an. Ich stelle mir vor, dass die Erinnerung an Buxtehude, geboren in Helsingör, sich in Becketts Erinnerung mit Shakespeares Theaterstück  HAMLET Prinz von Dänemark' verbindet, dessen Handlung in "Helsingör. A platform before the castle" beginnt. Was bewegt den Prinzen? Der Tod seines Vaters. Am Anfang ist es die nächtliche Erscheinung des (ermordeten) Vaters:

I,2 Hamlet: Mein Vater - mich dünkt, ich sehe meinen Vater.

     Horatio: Wo, mein Prinz?

     Hamlet: In meines Geistes Aug', Horatio.

     Horatio: Ich sah ihn einst, er war ein wackrer König.

     Hamlet: Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem. Ich werde  nimmer seinesgleichen             

     sehn. ..."

     Hamlet sieht den  Geist seines Vaters, so wie auch Watt bei der Schilderung des Musikzimmers sich an Gelegenheiten erinnert, "when his dead father appeared to him in a wood, with his trousers rolled up over his knees and his shoes and socks in his hand ..." und vielleicht vergnügt vor sich hin pfiff ... wie ein Regenpfeifer?

Der 5.Akt von HAMLET spielt auf einem Friedhof. Zwei Totengräber, zu Shakespeares Zeiten als Clowns gespielt, singen und scherzen beim Ausheben der Gräber, werfen mit Totenköpfen um sich, darunter der von Yorick, des Königs Spaßmacher. Hamlet, der hin zu gekommen ist, erinnert sich an ihn: "Ach, armer Yorick! Ich kannte ihn, ein Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen. Er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor! Mir wird ganz übel. Hier hingen diese Lippen, die ich geküsst habe, ich weiß nicht wie oft! Wo sind nur deine Schwänke? Deine Sprünge? Deine Lieder, deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Alles weggeschrumpft? ... Sei so gut, Horatio, sag mir dies eine ... Glaubst du, dass Alexander in der Erde solchergestalt aussah?

Horatio: Geradso.

Hamlet: Zu was für schnöden Bestimmungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungskraft nicht den edlen Staub Alexanders verfolgen können ... Man könnte ihm bescheiden genug dahin folgen und sich immer von der Wahrscheinlichkeit führen lassen. Zum Beispiel so: Alexander starb, Alexander ward begraben. Alexander verwandelte sich in Staub; der Staub ist Erde: aus Erde machen wir Lehm ..."

... und warum nicht aus Lehm/Ton eine Büste, eine Gipsbüste, sehr weiß, und sie bezeichnenderweise auf den Kaminsims stellen, in dem kein Scheit mehr brennt?

Becketts Vater starb am 26.6.1933 nach einwöchiger Krankheit, sechzigjährig. "I can only walk the fields and climb the ditches after him", schreibt Beckett an seinen Freund McGreevy.