Nachwort zu MERCADET oder WARTEN AUF GODEAU

In diesem Jahr erschien beim Verbrecher Verlag eine schöne Ausgabe der deutschen Übersetzung des Theaterstücks von Honoré de Balzac. Als Appetitmacher hier das Nachwort von Erika Tophoven. Mit Nachtrag aus Straelen. ISBN 978-3-95732-196-1

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Honoré de Balzac LE FAISEUR

Wer von allen französischen Autoren des 19.Jahrhunderts hat ein so umfangreiches Werk hinterlassen, hat so viele Leser, auch in Deutschland, gefunden wie Balzac? Jeder kennt zumindest ein paar der rund 88 Titel des Romanzyklus  La Comédie humaine/Die menschliche Komödie, die ein Gesamtbild der nachrevolutionären französischen Gesellschaft, der bürgerlichen und adeligen Schichten samt ihrer Domestiken  zu zeichnen versucht, ein Universum von gut 2000 Figuren.

Balzac schrieb wie ein Besessener, 15-17 Stunden am Tag. Er saß Nacht für Nacht und weit in den Tag hinein wie angenagelt an seinem kleinen rechteckigen Holztisch, auf dem gespitzte Rabenfedern und gleich mehrere Tintenfässer für ihn bereit standen, um die Arbeit nicht unterbrechen zu müssen. Er hüllte sich in eine Art Mönchskutte, so wie Rodin ihn in seiner drei Meter hohen Bronzestatue darstellt, massig, gebieterisch in seiner ganzen Haltung, eine legendäre Figur.

Aber Balzac war auch ein Lebemann, hatte ständig Geliebte aus den besten Kreisen und führte einen luxuriöser Lebensstil, der ihn unaufhörlich in neue Schulden stürzte. Seine Unrast erschöpfte seine Kräfte schon im Alter von  51 Jahren. Er starb 1850 in Paris, eben jener Stadt,  der er mit seinem Werk zu weltweitem  Ansehen verholfen hatte.

Man kennt  Balzac als Romanschriftsteller, aber als Dramatiker? Er hatte  sich verschiedentlich in dem Genre versucht, doch wenig Erfolg damit gehabt. Es gibt jedoch ein Theaterstück, an dem er fast zehn Jahre arbeitete und das er erst kurz vor seinem Tod abschloss: Mercadet. Schon in dem Namen der Hauptfigur klingt das Kaufmännische, Merkantile an, denn Balzac wagt mit dem Stück etwas bis dahin Undenkbares, indem er einen Börsenspekulanten zur Hauptperson macht. Keinen Aristokraten, keinen Arzt, keinen Advokaten. Das aufsteigende Bürgertum,  die Geldmacher  bilden hinfort den Mittelpunkt der Gesellschaft  und leben nach der Devise "Enrichissez vous!/ Bereichert euch!" Balzac selbst spürt diesen Trieb in sich  und lebt danach. In einer Welt, in der nur der Schein gilt, muss man auf jeden Fall den Anschein erwecken, viel zu haben, um viel zu bekommen,  argumentiert er. Mercadet ist in gewisser Hinsicht das alter ego des Autors.

Die drückende Schuldenlast, die Mercadet zu immer neuen Winkelzügen zwingt, heizt  seine Phantasie an. Er erfindet immer neue phantastische Geschichten,  um dem Druck seiner Gläubiger Paroli zu bieten. Ein Name spukt  noch in den Köpfen der habgierigen Geschäftemacher: Godeau. Er war Mercadets Kompagnon, ein Glücksritter, der vor ein paar Jahren mit Mercadets Kasse durchgebrannt ist, um im fernen Indien sein Glück zu suchen. Wie wär's, denkt Mercadet, wenn er ihn als goldbeladenen Retter in der Not zurückkommen ließe? Das Gaukelspiel nimmt seinen Lauf  mit einem komödiantischen Auf und Ab zwischen Düpierern und Düpierten, bis die Fiktion scheinbar zur Realität wird. Auf einmal heißt es, Godeau ist wieder da, er soll in Le Havre  gelandet sein  und traumhafte Schätze im Gepäck haben. Er wird alle Schulden begleichen und jedem zu seinem Glück verhelfen. "Allons voir Godeau!/Auf zu Godeau!" Alle stürmen von der Bühne. Es bleibt offen, ob er wirklich angekommen ist oder allein die Fiktion ein Wunder bewirkte.   

Als der Leseausschuss der Comédie Francaise das Stück 1840  vorgelegt bekommt und einstimmig annimmt, scheint der Erfolg garantiert. Doch die Aufführung lässst auf sich warten. Godeau kommt für Balzac zu spät. Erst 1851, ein Jahr nach seinem Tod, findet die Uraufführung  im Théâtre du Gymnase statt, 1868 folgt dann die Inszenierung in abgeänderter Fassung in der Comédie Francaise. Fortan steht das Stück  immer wieder auf dem Spielplan. Bekannte Regisseure bringen es auf die Bühne und spielen selbst gern den skrupellosen, rabiaten Spekulanten Mercadet, so Charles Dullin in seiner Inszenierung 1935, für die Darius Milhaud sogar eine Bühnenmusik schrieb. 1957 greift Jean Vilar, der berühmte Gründer des Théâtre  National Populaire (TNP), zu dem Stück, übernimmt selbst die Hauptrolle, aber gibt ihm einen neuen Titel: Le Faiseur. Hinfort wird er bald unter dem einen oder dem anderen Titel aufgeführt, oder beide werden als Mercadet le Faiseur  kombiniert. Das Stück hat nunmehr seinen festen Platz auf Pariser Bühnen. 1993 verzeichnet die Inszenierung von Jean-Paul Roussillon in der Comédie  Francaise die 163. Aufführung. In der Theatersaison 2014/15 brachte es Emmanuel Demarcy-Mota im Théâtre de la Ville de Paris auf die Bühne und ging anschließend damit auf Tournee durch  ganz Frankreich. Er verlegte die Handlung in die 1970er Jahre, während Robin Renucci ein Jahr später  im Theater Les Tréteaux de France  das Stück wieder in Kostümen der Balzac-Zeit spielen lässt, aber deutliche Parallelen zu unserer Zeit mit ihrer Unersättlichkeiten durchklingen lässt. 

Man kann den Hauptakzent auf die Spekuliersucht legen, aber übersieht leicht dabei ein anderes Element: das Warten. Hundert Jahre nach Godeau, am 5.Januar 1953, standen in Paris zwei Vagabunden auf der Bühne des kleinen Théâtre de Babylone, die wie Mercadet auf einen Retter in der Not warten, auf einen Heilsbringer, einen Monsieur Godot. Sie sind mit ihm verabredet, so glauben sie, auf einer Landstraße, an einem Baum im Nirgendwo. Sie warten, werden vertröstet mit einer Botschaft, die ihnen ein Junge bringt, bis sie es schließlich aufgeben. Sie stehen am Schluss mit hängenden Armen an der Rampe:

 "Allons-y. / Gehen wir."

Doch dann, im Unterschied zu Balzac, bleiben sie stehen. Hier der entscheidende Nachsatz von Beckett:

"Ils ne bougent pas./Sie rühren sich nicht von der Stelle."

Warten auf Godeau oder Godot? Es ist naheliegend, zwischen beiden Stücken Ähnlichkeiten zu sehen. Längst vergeht keine Aufführung mehr, ohne dass auf diese Verbindung hingewiesen wird. In den USA beschreibt der Übersetzer des Balzac-Stücks sogar in seinem Vorwort, dass er es 1986 wagte, Beckett direkt zu befragen. Er erhielt folgende Antwort:

            Dear Mr. Axelrod, I have never read Balzac's Mercadet.

            Sincerely Samuel Beckett.

Nie gelesen ... aber vielleicht auf der Bühne gesehen?

So oder so, das Thema des Stücks ist bei Beckett ja nicht Godot, sondern, wie Esslin schreibt, das Warten, dass Warten als ein wesenhaftes Merkmal menschlichen Seins.

Ich wurde erst auf  Balzacs Faiseur aufmerksam, als ich Anfang der Neunzigerjahre in Martin Esslins  Essayband  Das Theater des Absurden auf den möglichen Vorgänger von Godot hingewiesen  wurde. Kurz darauf sah ich die Theaterankündigung Le Faiseur in Paris an der Litfaßsäule, verpasste leider die Aufführung, beschaffte mir aber sofort ein Exemplar und begann  das Stück zu übersetzen. Hatte mein Mann 1953 Becketts Godot übersetzt, so machte ich mich vierzig Jahre später an den Godeau von Balzac, nach der Tragikomödie jetzt eine herzerfrischende Komödie.

Ein Problem, das sich gleich zu Anfang stellte, war der Titel. Im Französischen war das Stück ja mal als Mercadet le Faiseur, mal nur als Le Faiseur  bekannt geworden. Die Bezeichnung Faiseur für einen Hochstapler war zwar nicht unbekannt, aber als Titel nicht zu gebrauchen. Warum nicht das einfache deutsche Wort mit dem gleichen Impetus wählen: der Macher? Zum Glück erinnerte ich mich an einen amüsanten Brief, den ein uns befreundeter französischen Germanist 1981  dem Chefredakteur der Nordwest Zeitung geschrieben hatte. Ich fand die Kopie noch im Archiv  und las:  

Monsieur le rédacteur en chef,

Es wird Sie interessieren zu erfahren, welche Informationen über Deutschland Sie hier verbreiten.

Zum Beispiel wird uns in Ihrer letzten Nummer mitgeteilt, "der Bundeskanzler habe den SPD und FDP Fraktionen Auf Wiedersehen gesagt" oder, noch kontextgerechter rückübersetzt, er habe sich "französisch empfohlen" - kurz, er sei eher unrühmlich "zurückgetreten"! Denn das bedeutet nun einmal eindeutig der französische Ausdruck "tirer sa révérence" und nicht, wie der Übersetzer zu wissen glaubte, "seine Reverenz erweisen".

Allerdings entbehrt dieser Artikel aus der Nordwest Zeitung auch in der französischen Fassung nicht einer gewissen Logik, und die hiesigen Leser können besagten Fraktionen zu diesem Rücktritt des Kanzlers nur gratulieren, denn wenige Zeilen weiter wird ihnen anvertraut, die Zeit liege nicht so fern, "als Helmut Schmidt als Hochstapler galt"! Denn das bedeutet nun einmal das Wort "faiseur", und nicht, wie der Übersetzer zu wissen glaubte, "Macher". ...

Herzlichst Ihr .... .

Mercadet  ist also kein Macher, aber "Mercadet, der Hochstapler"?  Ein  reizvoller Gedanke für mich, zumal sich im Zusammenhang mit "Godot" eine Hochstaplergeschichte abgespielt hat. In der Justizvollzugsanstalt Lüttringhausen übersetzte 1953 ein Strafgefangener Godot hinter Gittern und durfte das Stück sogar mit Mitgefangenen in der Anstaltskirche inszenieren. Der Autor war tief gerührt, es kam zu einem Briefwechsel, und als die Entlassung bevorstand, wollte Beckett sogar ein Stück für ihn schreiben, mit dem er durch die Lande ziehen könnte. Doch der Mann war ein Faiseur. Kaum wieder in Freiheit, regte sich in dem Fabulanten erneut die perverse Lust, sich aufzuspielen und seinem jeweiligen Gegenüber  verlockende Dinge vorzugaukeln, kaltblütig und raffiniert, dem nur wenige widerstanden. Ich selbst konnte sechzig Jahre nach diesen aufregenden Begebenheiten der Versuchung nicht widerstehen, den Irrwegen des Mannes nachzuspionieren und ein Buch darüber herauszubringen: Godot hinter Gittern *).

Vor 1953 wäre der Titel 'Mercadet oder Warten auf Godeau' noch nicht zustande gekommen. Die deutsche Erstaufführung von Godot  am 8.September 1953 im Schlosspark Theater in Berlin fand noch unter dem Titel  Wir warten auf Godot statt. Das vereinnahmende wir sollte jedoch vermieden werden, die inzwischen so geläufig gewordene Wendung Warten auf ...  musste erst einmal gewagt werden. Die Nachricht mit dem geänderten Titel erreichte Berlin infolge eines Poststreiks zu spät, die Plakate waren schon gedruckt und auch die ersten Rezensionen erschienen noch in der alten Form.

Warum Balzac als Namen für seinen Hoffnungsträger Godeau wählte, darüber ist, im Gegensatz zu Godot, nie gerätselt worden. Godeau ist in Frankreich keine Seltenheit. Als der französische Schriftsteller Marcel Jouhandeau sich 1926 mit dem Leben eines Monsieur Godeau intime befasste und 1933 sein Eheleben in Monsieur Godeau marié  beschrieb, gab es zwar immer wieder Anlass, sich über einen Monsieur Jouhandeau intime zu ereifern und erst recht über sein Eheleben mit der ehemaligenTänzerin Caryathis, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, in diesem Fall  Recherchen  über den Namen Godeau  anzustellen. Hatte es nicht auch einen bekannten Radrennfahrer namens Godeau gegeben? Und die Menschenmenge am Straßenrand wartete natürlich voller Spannung auf Godeau.

Vor mehreren Jahren fragte mich in einem Brief ein "Namen-Spekulant": "Hat Beckett Thomas Mann gelesen?" Im Doktor Faustus erscheint in der Tat eine reizende Marie Godeau aus Paris, die bei Adrian Leverkühn Heiratspläne zeitigt. Ich weiß von Becketts Thomas Mann-Lektüre auf seiner sechsmonatigen Deutschlandreise 1936/37 und erinnere mich an den Satz in seinem German Diary: "Young bookseller very eloquent on scandalous theme of Thomas Mann (Geschichte Jakobs)."  Er führte auch Gespräche über die Buddenbrooks, aber von Dr. Faustus und einer reizenden Marie Godeau war nie die Rede.

Balzacs Mercadet steht und fällt nicht mit der Hauptperson Mercadet. Auch die anderen Rollen sind hervorragend gestaltet und Glanzrollen für jeden Schauspieler. Zwei Welten treffen hier aufeinander: die romantischen Vorstellungen der Tochter Julie und ihres mittellosen Liebhabers Adolphe Minard einerseits, und die gesellschaftlichen und materiellen Ambitionen des Vaters andererseits.. Die Dachstübchenidylle des jungen Paars erinnert an die Novelle von Ludwig Tieck Des Lebens Überfluss, "sein gelungenstes Werkchen", wie er es selbst nannte. Tieck, le Roi des Romantiques,  wurde schon in den 1830er Jahren ins Französische übersetzt, gelesen, gespielt, und seine Philosophie der Armut fand Aufsehen. Es ist denkbar, dass Balzac sich von den Ideen des Frühromantikers für seinen Mercadet hat anregen lassen. In der Novelle leiht Heinrich, ein junger Diplomat, Schriftsteller und Bücherliebhaber,  seinem abenteuerlustigen Freund Andreas Vandelmeer einen Teil seines Vermögens, um in Ostindien damit zu spekulieren. Klärchen, seine Angebetete aus adeligen Kreisen, findet mit ihrer Liebe zu dem Bürgerlichen Heinrich beim Vater kein Gehör. Doch sie will von Heinrich nicht lassen, flieht aus ihrem Elternhaus zu ihm, und beide finden nach abenteuerlicher Flucht ein Mansardenstübchen, in dem sie, armselig aber glücklich, ganz ihrer Liebe leben. Doch  als die letzte Kartoffel verzehrt, das letzte Holzscheit verbrannt ist, kommt  Andreas, der Retter aus  Ostindien zurück, Gold beladen, und "alles war Freude".  

Ende gut, alles gut?  Wird Mercadet, einmal vor der Insolvenz gerettet, in Zukunft ein friedliches Landleben führen und seinen Kohl bestellen? Der Gedanke kommt auf, wird aber gleich wieder verworfen. Mercadet ist und bleibt ein Faiseur, der immer einen Godeau brauchen wird, um zu überleben.

Nachtrag 6.10.16 Straelen

2.Briefband Les années Godot (S.266)

Lettres 1950 - Brief an Georges Duthuit (fin décembre 1950)  Paris

            "Cher vieux Georges,

                        ... J'ai été emmerdé en  me rappelant tout d'un coup le M.Godeau intime de Jouhandeau. Je cherche à remplacer Godot par un autre nom et ne trouve rien. Crois-tu que ce soit nécessaire?

 

3.1.1951 Ussy

" ...

            Tu ne m'as pas répondu pour la question Godeau-Godot. Je crois que je n'ai qu'à laisser, mais j'aimerais bien avoir ton avis."... 

 

23.1.17 Bln

Nochmals Nachdenken über Godot/Godeau im Hinblick auf den Abend im Halimi am 14.2.

Sollte man nicht Godot im Zusammenhang mit Pozzo un d Gogo sehen: 3 x o o, 1 x i i, Lucky: u  y/i

Siehe die Häufung der 0  in Worstward Ho