Nathalie

Man gedenkt selten eines Autors oder einer Autorin am 18.Todestag sondern nimmt eher die 10. oder 20.Wiederkehr dieses Tages zum Anlass. Es ist  in der Tat ein Zufall, dass die Autobiographie der bekannten französischen Autorin Nathalie Sarraute genau achtzehn Jahre nach ihrem Tod erscheint. Sie starb 99jährig am 19.Oktober 1999 in Paris. Ich erinnere mich genau an den Tag, denn ich arbeitete damals an der Übersetzung ihres letzten Romans "Ouvrez/Aufmachen" und hatte noch wenige Tage vorher mit ihr telefoniert, um den nächsten Arbeitstermin festzulegen. "Je suis très fatiguée" sagte sie mit ungewöhnlich schwacher Stimme am Telefon. Keine Eile, dachte ich, es lässt mir Zeit, das Manuskript noch einmal durchzusehen. Seit 1960, als mein Mann mit der Übersetzung ihrer Werke begann,  war es üblich, ihr die deutsche Fassung vor Drucklegung vorzulesen und letzte Fragen mit ihr zu erörtern. Nach dem Tod meines Mannes 1989 erschienen noch drei Romane: "Tu ne t'aimes pas"/Du liebst dich nicht", "Ici/Hier" und "Ouvrez/Aufmachen". Es war ein große Ermutigung in meiner damaligen Lage, dass sie mir zutraute, die Arbeit meines Mannes fortzuführen. So traf ich sie regelmäßig und reiste mit ihr 1992 sogar nach Berlin, wo sie im Institut Français Unter den Linden von einem zahlreichen Publikum begeistert empfangen wurde.

1996 erschien ihr Gesamtwerk in der berühmten Ausgabe der Pleiade, eine Ehre, die einem Autor selten zu Lebzeiten zuteil wird. Doch der über 2000 Seiten starke Band umfasste noch nicht alles. 1997 erschien "Ouvrez/Aufmachen", dessen deutsche Ausgabe sie nicht mehr erlebte. Friederike Roth erarbeitete eine Hörspielfassung, die der Südwestfunk unter der Regie von Heinz von Cramer am 24.1.2000 sendete. Ich veranstaltete 2000/2001   noch Abende en Hommage der Autorin in den Literaturhäusern Berlin, Hamburg und Köln, gestützt auf das umfangreiche Anschauungsmaterial, das mein Mann in den fast dreißig Jahren seiner Übersetzungen ihres Werks zusammengetragen hatte: neben den handschriftlichen Manuskripten Tausende von Kartenkarten mit Problemstellen und ihren Lösungen sowie zu ihrem Buch "Kindheit" ein Glossar mit 304 Eintragungen, das 1996 mit Kollegen im Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen zusammengestellt worden war.

Mit dem Ende des 20.Jahrhunderts verklang ihre Stimme, und es wurde still um Nathalie, wie ihre Vertrauten sie nennen durften. Das Erscheinen ihrer Autobiographie KINDHEIT in der soeben bei Suhrkamp erschienenen Neuauflage im Rahmen der von der Académie de Berlin ausgewählten Werke der französischen Literatur wird hoffentlich das Interesse an dieser Autorin sowie an den anderen bedeutenden vierzehn Autoren dieser Reihe neu entzünden.