Nicht Ich (II) 12.11.17 Bln

"Ein Mund, sonst nichts ..."

.... so überschreibt Christian Ferber seine Kritik über die europäische Erstaufführung von Becketts "Not I" am 1.Februar 1973 im Londoner Royal Court. Die deutsche Erstaufführung folgte im November desselben Jahres in der Werkstatt des Berliner Schiller-Theaters. In London war die atemlose Sprecherin dieses Angstschreis, von der nur der Mund zu sehen ist, DIE Beckett-Schauspielerin Billie Whitelaw, die in ihrer Autobiografie auf 18 Seiten ihre Probenarbeit mit Beckett  beschreibt und dem Buch, in Anspielung auf "Not I", den Titel gab "Who He?". In Berlin lieh die Brecht-Tochter Hanne Hiob der Sprecherin ihren Mund, "ein Mund voll Leben", wie es in einer Kritik heißt. "Sie bringt das Kunststück fertig, schlicht und normal in den Ausdrucksmitteln zu sein und gleichzeitig ungemein suggestiv zu wirken. Eine gewichtige halbe Stunde". Auch in Paris fasziniert "Pas moi" im April 1975 im Petit Orsay,  und für den Rezensenten des Figaro  haben die 751 hervorgestoßenen Satzfragmente die Reinheit eines gregorianischen Gesangs.

Für die deutschen Übersetzer, die das englische Original, vom Autor auf sechs Seiten eng getippt, Anfang 1973 zugeschickt bekamen, waren viele Durchläufe nötig, um für den Text inhaltlich und rhythmisch eine annähernd befriedigende Form zu finden. Dank der im Nachlass aufbewahrten Manuskripte und der 120 Karteikarten lassen sich die einzelnen Schritte nachvollziehen. Von März bis Mitte Mai entstanden 15 Versionen, jede mit Korrekturen in verschiedenen Farben, die aufgrund der Daten auf Durchsicht und Abstimmung mit dem Autor hindeuten. Entscheidend war es, wie immer bei Beckett-Texten, gerade bei dieser Übersetzung die jeweils kürzeste Form zu finden. Zwischen den Manuskriptblättern liegt eine Art Strichliste: Jede Silbe zählt! Das Ergebnis: E: 244 / D: 260 / F: 246 Silben.

Warum war die Übersetzung so schwierig? Das Vokabular ist einfach. Aber die Anordnung der Wörter in den abgerissenen Sätzen, die zyklisch wiederkehrenden Wiederholungen, der Rhythmus, die Echos, die Konkordanzen, das Ganze komponiert wie eine Musikpartitur. Man wird von dem fein gefügten Text, der kaskadenartig hervorgestoßen werden soll, nicht jedes Wort verstehen. Man wird kaum den Anklang an ein Goethe-Gedicht oder ein Shakespeare-Sonett heraushören, die Beckett im Sinn hatte und sich ihm unwillkürlich aufdrängten, während wir Übersetzer auf seinen Hinweis angewiesen waren. So finde ich auf einer Karteikarte, SB 12/3, rot umrandet, bei der unauffälligen Zeile "wandering in a field / looking aimlessly for cowslips / beim Spazieren in einem Feld/ lässig/ziellos suchend nach Schlüsselblumen" folgende Notiz:

            spazieren ne donne pas l'idée de wandering ...

            herumsuchen ne traduit pas l'illogisme aimlessly

Dann auf der Rückseite (24.3. 73) in grün : Gefunden

            Ich ging im Walde

            so für mich hin,

            und nichts zu suchen,

            das war mein Sinn.

 

            Im Schatten sah ich

            ein Blümchen stehen,

            wie Sterne leuchtend,

            wie Äuglein schön.

 

            Ich wollt' es brechen,

            da sagt' es fein:

            Soll ich zum Welken

            geboren sein?

 

            Ich grub's mit allen

            den Würzlein aus,

            zum Garten trug ich's

            am hübschen Haus.

 

            Und pflanzt' es wieder

            am stillen Ort;

            nun zweigt es immer

            und blüht so fort.

                                   Johann Wolfgang von Goethe

 

Der Passus lautet dementsprechend: Beim Umherschweifen auf einem Feld / ziellos nach Schlüsselblumen suchend  ..." Warum,  nicht "umhergehen" frage ich mich heute.

 

Die Schlüsselblumen führen zu einem anderen Zitat, denn warum sucht SHE/SIE gerade nach cowslips, Primula veris, im Deutschen viel schöner: Schlüsselblumen. Sie evozieren andere Bilder als cowslips, die wiederum bei Shakespeare-Kundigen  Ariels Lied aus The Tempest in Erinnerung rufen:

            Where the bee sucks, there suck I:

            In a cowslip's bell I lie;

            There I couch when owls do cry...

                           

Wenn etwas weiter im Text das Bild wieder aufgegriffen wird und von a distant bell die Rede ist, so ist damit keine Glocke  in der Ferne gemeint sondern der Blütenkelch, die Dolde, in die Ariel sich bettet. Schlegel/Tieck lagern den Luftgeist in einem Maiglöckchen.   

Ein weiterer Shakespeare-Vers klingt im Text an, diesmal auf das XXX.Sonett, wenn es heisst:

            "... and all dead still ... sweet silent as the grave /

             und alles totenstill ... süße Stille wie im Grab"

bei Shakespeare:

            "When to the sessions of sweet silent thought

            I summon up remembrance of things past,

            I sigh the lack of many a thing I sought,

            And with old woes new wail my dear time waste:..."

Auch Themen aus früheren Werken klingen an, z.B. aus "Glückliche Tage". Man denkt an Winnie bei den Zeilen: "keine Schmerzen! ...man denke! ... keine Schmerzen! ..." und hört Winnie sagen: "Keine Besserung, keine Verschlimmerung, keine Veränderung, keine Schmerzen, fast keine, great thing that: Das ist die Hauptsache (S.B.), da geht nichts drüber ... und sie wiederholt es ein paar Zeilen weiter, dankbar: "ach ja, viele Gnaden, große Gnaden, vielleicht nicht umsonst, das Beten ..." "Tender Mercies" war anfangs der Titel von "Happy Days". Auch in NOT I  liest man "Gott ist Liebe ... sanfte Gnaden ... alle Morgen neu" und findet darin einen Anklang an die Klagelieder 3,23: "Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß."

So könnte es weitergehen, 751 Zeilen lang ... es bleibt noch viel zu erforschen.