Waldheim

In diesen Wochen jähren sich die Waldheimer Prozesse zum siebzigsten Mal. Wer weiß davon? Wen kümmert es?  Nur die Betroffenen, so weit sie noch leben, und die Familien, die das Trauma 'Waldheim' ihr Leben lang mit sich herum tragen. Wie kann ein Ort mit einem so klangvollen Namen traumatische Erinnerungen wecken?  Ist doch das Städtchen zwischen Leipzig und Dresden idyllisch gelegen. Nur Karl May-Freunde werden sich vielleicht entsinnen, von einem Zuchthaus in Waldheim gelesen zu haben, in dem er seine Strafen verbüßt hat. Er hat ihm später eine umfangreiche Bibliothek vermacht und ein Legat, wie mein Vater in seinen Lebenserinnerungen berichtet, aus dem jeder Häftling zu Weihnachten einen Stollen erhält. "So habe auch ich zweimal von Karl May profitiert!" Das muss Weihnachten 1950 und 1951 gewesen sein. In den vorhergehenden Jahren, vom 4. Januar 1946 bis zur Verlegung nach Waldheim, erlebte er die Weihnachtsfeste unter noch schlimmeren Verhältnissen im Zuchthaus Bautzen, dem "Gelben Elend".

Vater im Zuchthaus. Das rief im Westen, wohin wir im Frühjahr 1946 geflüchtet waren, nur misstrauische Reaktionen hervor. "Er wird schon was verbrochen haben", und es war naheliegend, es mit Naziverbrechen in Verbindung zu bringen. Das war mir damals gar nicht klar, denn er hatte in den zurückliegenden zwölf Jahren nur mit Geschick seine Haut retten können.1934 als junger Landwirtschaftsrat in Dessau, hatte er sich 'frühpensionieren' lassen, weil er nicht in die Partei eintreten wollte und damit als Beamter untragbar wurde. Das neu gebaute Haus in Dessau wurde verkauft, und wir zogen auf einen kleinen Erbhof in Ostfriesland. Für mich waren es glückliche Kinderjahre in dem 700 Einwohner zählenden Dorf, wo mich jeder kannte und ich "in elker köken komen kunt", für meine Eltern und meine beiden älteren Schwestern ein schmerzhafter Lebenseinschnitt.

Mein Vater, der 1914 als junger Student freiwillig in den Krieg gezogen war und vier Jahre an der Front 'nur' mit einem Hörschaden überlebte, musste 1939, diesmal unfreiwillig, wieder antreten. Er machte als Kavallerieoffizier den Frankreichfeldzug mit und wurde wenige Monate nach Ausbruch des Russlandkrieges als Kriegsverwaltungsrat zum Einsatz in der Ukraine rekrutiert. Bevor eine Art von Verwaltung zustande kam,  hatte mein Vater seine Vorgesetzten aufgrund seines Hörschadens davon überzeugen können, dass er im Ausland nicht mehr verwendungsfähig war. Unser kleiner Bauernhof rechtfertigte keine Befreiung vom Militär. Nur eine volkswirtschaftlich vertretbare größere Aufgabe konnte ihn vor weiterem Wehrdienst bewahren. Es ergab sich, dass das Rittergut Thurm, zwischen Zwickau und Glauchau gelegen, schlecht bewirtschaftet wurde und für die "Volksernährung" nicht genug einbrachte. Es kam schnell zu einer Einigung mit Herrn Fritz Sarfert, dem Eigentümer des Gutes, der die Einmischung der Partei in seinen Wirtschaftsbetrieb fürchtete. Im Mai 1942 zogen wir nach Thurm, eine glückliche Lösung, wenn mein Vater auch von Seiten der NS-Verwaltung unter scharfer Beobachtung blieb und ihm die Ausbildung von Lehrlingen bis zum Ende 1945 untersagt war.

Am 11.April 1945 rollten amerikanische Panzer durch Thurm und den Mülsengrund entlang, ohne einen Schuß, denn mein Vater hatte rechtzeitig auf dem neben dem Gut aufragenden Kirchturm die weiße Fahne aufziehen lassen. Doch das Bleiben der Amerikaner war von kurzer Dauer. Ende Juni hörten wir eines Nachts Panjepferdchen durch den Ort trappeln: fortan waren wir sowjetische Besatzungszone. Schon im August wurde Herr Sarfert, ein alter Herr, verhaftet und wie andere Gutsbesitzer, auf die Insel Rügen transportiert und dort ausgesetzt. Er kehrte später nach Zwickau zurück, durfte sich seinem Gut aber nicht mehr im Umkreis von 30 km nähern. Russen besetzten zunächst das Verwalterhaus, aber der Gutsbetrieb lief anfangs normal weiter. Mein Vater wurde mit der Verwaltung der Kreisbauernschaft und der Ernährungswirtschaft des Kreises beauftragt. Sein Wirkungsfeld im Agrarsektor dehnte sich bald über ganz Westsachsen aus. Im Herbst trat, von Walter Ulbricht unterzeichnet, das Bodenreformgesetz in Kraft. Mein Vater versuchte, das Gut zu retten, indem er Pläne für ein Lehrgut entwickelte, die nach seiner Verhaftung auch umgesetzt wurden. Am 4.Januar war mit einem Schlag alles zu Ende: er wurde aus einer Sitzung heraus verhaftet, und wir sahen ihn erst nach fast sieben Jahren wieder.

Ich überspringe seine Bautzener Jahre, die von ihm sehr detailliert in seinen Erinnerungen beschrieben sind, und gebe hier nur mit seinen eigenen Worten den Verlauf des Prozessablaufs in Waldheim im Juni 1950 wieder, so wie er ihn persönlich erlebt hat:

"... Aus Gründen, die ich nicht weiß, kam ich am Ende des 'Theaters' zu meiner Rolle. Es war schon eine Leistung, in etwa 6 Wochen 3500 Menschen ein Urteil zu verpassen, d.h. es wurden täglich über 100 Menschen verurteilt. So groß war auch etwa der Haufen, mit dem ich in einem Saal landete, der für einige Tage unser 'Wartezimmer' war. Der daneben liegende Saal diente der unmittelbaren 'Bereitstellung'. In der darunter liegenden Etage spielte sich derselbe Vorgang ab, und in der Frauenabteilung war eine dritte ähnliche Schleuse. Einige Tage vorher wurden wir in Trupps von etwa 5 Mann in einen Raum gebracht und von dort einzeln in ein Zimmer, in dem einige besser gekleidete Uniformierte saßen. Es begann ein Frage- und Antwortspiel über Personalien, Lebenslauf und Parteizugehörigkeit. Als ich sagte, ich sei niemals Pg gewesen und 1933 deswegen aus meinem Amt entlassen worden, sagte der Vernehmende nur:" Ach, das haben Sie bloß vergessen", und als ich entgegnete: "Das ist nachprüfbar", sagte er: "Das wissen wir auch so. Dann waren Sie wohl auch kein Hauptmann und Kriegsverwaltungsrat?" und ich sagte: "Hauptmann bis 1941 und K.W.Rat für 6 Wochen". Seine Antwort: "Uns genügt ein Tag. Aber über Ihr Vermögen wissen Sie doch Bescheid?" Ich sagte nur: "Darüber kann ich nichts sagen, denn ich bin seit 5 Jahren in Bautzen, ich weiß nicht einmal, wo meine Familie ist." Er sagte nur: "Wir auch nicht", und ich war entlassen. Natürlich war nach der Rückkehr die Vernehmung das Hauptgesprächsthema. Ich sagte nur: "Alles Quatsch", wurde aber hellhörig, als am nächsten Tag ein alter Bekannter ganz erschüttert wiederkam und von einem ganz scharfen Verhör berichtete, das er mehrere Stunden stehend hatte über sich ergehen lassen müssen. Er wurde zum Tode verurteilt und am 4.11.1950 gehängt mit 24 anderen, die ich z.T. auch kannte.

Über uns alle legte sich lähmendes Entsetzen, als wir nur von Strafen hörten, die zwischen 10 Jahren und lebenslänglichem Zuchthaus lagen. Wenn auch die Verurteilten streng von uns getrennt wurden, so erfuhr man doch etwas von diesen Schandurteilen, die der uns nun ganz einspannende Inhalt der Gedanken und Gespräche war. Selbst die provozierend missachtende Behandlung unserer Wärter und die Verpflegungsfrage traten dagegen in den Hintergrund. Lange klammerte ich mich daran, dass es eine Genugtuung sein würde, nun endlich vor "deutschen Richtern" in deutscher Sprache meine völlige Unschuld beweisen zu können. Als dann aber ruchbar wurde, dass die Verfahren in einem Tempo von 10-15 Minuten erledigt würden und dass man praktisch gar nicht gehört würde, schwand auch diese Hoffnung.

Eines Tages war es dann soweit. Auch ich wurde aufgerufen, bekam ein Schriftstück in die Hand gedrückt und wurde mit etwa 25 'Genossen' in einem Raum eingeschlossen. Als ich das Schriftstück gelesen hatte, sagte ich laut: "Die Rübe ab" und konnte lachen. Ich war Pg seit 1933, war wegen meines Einsatzes für das Naziregime vorzeitig vom Leutnant zum Hauptmann befördert worden und hatte mich besonders aktiv bei der Ausplünderung der Ukraine hervorgetan, so dass das russische Volk noch Jahre nach dem Krieg gehungert habe. Ich sei daher ein Kriegsverbrecher! Es folgte eine lange Nacht, die ich ohne Schlaf verbrachte wie fast alle. Am nächsten Morgen nahm man uns die Anklageschrift wieder weg, wir wurden zu Gefangenenautos gebracht, und man legte uns Handschellen an. Das war die tiefste Erniedrigung meines Lebens. Der Wagen fuhr uns schubweise von der "Kirche", die als Warteraum diente, über die Straße, höchstens 15 Meter, in ein Gebäude, das den etwa zwanzig Strafkammern als Gerichtsraum diente. Hier wurden die Handschellen abgenommen, und nach und nach kam jeder 'dran'. Ich trat in ein Zimmer, in dem hinter einem großen Tisch 5-6 Menschen in schwarzen Roben saßen, darunter eine ältere Frau. Schon der erste Blick zeigte mir, dass es keine Richter waren, Hände und Gesicht sagten genug. Ich hatte eine kalte Wut, und als ich nach dem Verlesen der "Anklageschrift" zu Worte kam, sagte ich: "Kein Punkt der Anklage ist richtig, ich bin weder Parteigenosse gewesen noch ... "Wollen Sie sagen, dass die russische Anklage lügt", fuhr der Vorsitzende mich an. "Sie entspricht nicht den Tatsachen", war meine Antwort. "Das haben Sie nicht zu untersuchen noch wir," sagte er. "Die Anklage ist beweiskräftig. Ich beantrage 15 Jahre Zuchthaus." Und ich wurde hinausgeführt. Nach einigen Minuten wurde ich wieder hineingebracht, und mir wurde eröffnet, dass ich wegen Ausplünderung der Sowjetunion zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt sei. "Nehmen Sie das Urteil an?" wurde ich noch gefragt, und ich sagte nur, "Ich nehme es an, damit dieses Verfahren aktenkundig wird".

Wir wurden wieder gefesselt über die Straße gefahren bis zur Kirche und dann schubweise in die Kleiderkammer gebracht, um in die Sträflingskleidung "eingekleidet" zu werden.  Aus der Tatsache, dass wir in denselben Raum zurückgebracht wurden, den wir morgens als "Zivilisten" verlassen hatten, schlossen wir, dass es der letzte Schub war und wir nun alle "Zuchthäusler" waren. Noch am selben Tage (30.6.1950) erhielten wir nach endlosen Sprüchen über das Verhalten in unserer 'neuen Würde' eine Postkarte mit Bleistift und der Anweisung, das Urteil unseren Angehörigen mitzuteilen. Das war schwer. In meinen Akten sind in einem Umschlag die Briefe und Karten, die ich aus Waldheim, schickte, enthalten. ..."  

Es folgten 27 Monate stumpfen Dahinvegetierens, in denen nur die monatlich erlaubten 20 Briefzeilen und ein Päckchen die Lebenskraft wachhielten. Dann am 3.Oktober 1952 die unerwartete Entlassung. Wer hatte dazu geführt?  Vor ein paar Tagen lese ich im "Stacheldraht",  einer 1991 vom BSV-Landesverband Berlin gegründeten Zeitschrift, herausgegeben von der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. (UOKG), die ich seit vielen Jahren beziehe, einen Artikel mit der Überschrift "Thomas Mann und das Zuchthaus Waldheim", verfasst von einem Jörg Bernhard Bilke, in dem ich das bestätigt finde, was mein Vater in seinen Aufzeichnungen schildert. Danach soll Thomas Mann in Kalifornien von den Prozessen erfahren und sich in einem Brief vom 19.Juli 1952 an Walter Ulbricht darüber empört haben. Dieser Brief, "persönlich und privat", wurde, wie es heißt, vollständig abgedruckt in Heft 2/1990 der Neuen Rundschau. Ich werde ihn mir besorgen. Inzwischen sind auch auf Google Einzelheiten über die Waldheimer Prozesse nachzulesen.

Ich bin meinem Vater dankbar, dass er trotz der durch zwei Kriege und 7 Haftjahre verlorenen Lebensjahre die Kraft aufbrachte, in den 60er Jahren auf mehreren hundert Seiten seine Erfahrungen für uns festzuhalten und, was für mich das wichtigste ist, uns Nachfahren durch seine aufrechte Haltung ein Vorbild zu sein. Das war für mich in den 40 Jahren in Frankreich ein innerer Halt - auch wenn mir niemand glaubte!