Gerd (damals und heute)

... er war noch Student, als wir ihn kennen lernten und er zum ersten Mal die hundert Stufen zu unserem damaligen Domizil - 24, rue des Ecoles - empor sprang. Ich sehe ihn vor mir, groß, schlank, im schwarzen Rollkragenpullover. Er war immer willkommen. Meist kam er wohl am späten Nachmittag, es dunkelte schon, vielleicht zu einer späten Teestunde, die damals noch ein fest stehendes Ritual bei uns war, denn er erinnerte sich immer wieder an die fein geschnittenen Kuchenschnittchen vom "kalten Hund", jenem bekannten Schokoladenkuchen, den meine Mutter mir damals öfter schickte und die ich auf den schmalen Tisch zwischen den beiden hohen Fenstern stellte, an dem ich gewöhnlich Top gegenüber saß und seine Übersetzungen in die Olivetta tippte.

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Ich räumte ihm gern meinen Platz, denn Top wird selten einen so aufmerksamen Zuhörer gehabt haben, von dem er gern jeden behutsam vorgebrachten Vorschlag aufgriff. "Könnte man es vielleicht auch verbal ausdrücken?" höre ich ihn noch sagen. War es bei einer der Kurzgeschichten für Hans Benders Neue Zeitung, für die Top zum Beispiel die Kurzgeschichte "Die Treppe des Fürsten Ernst" von Geneviève Serreau übersetzte? War es die Kurzgeschichte von Emmanuel Roblès aus der Zeit des Algerienkrieges "Die kabylische Nachtigall", die 2015 noch einmal in Sinn und Form abgedruckt wurde? Oder war es Robbe-Grillets "La Jalousie oder die Eifersucht", ein Buch, das Gerd so aufmerksam studierte, dass er den Grundriß des Kolonialhauses nachzeichnete und feststellte, dass eine Tür fehlte.

Gerds Interesse am Übersetzen war geweckt, und noch unschlüssig, welchen Berufsweg er einschlagen sollte, erwog er eine zeitlang seine eigene Lust am Übersetzen bei der Übertragung von Albert Memmis Roman "Die Salzsäule", Pierre Gascars Bericht über seinen Fluchtweg aus deutscher Gefangenschaft "Le Fugitif" und der Übersetzung der schönen Bildbände "Chambord" und "Venedig". Doch bald nahmen ihn akademische Aufgaben voll in Anspruch, er kehrte endgültig zurück nach Deutschland und der Austausch beschränkte sich auf gelegentliche Besuche in Freiburg oder Erlangen oder umgekehrt von Gerd und Brigitte bei uns in Malmaison oder später in Le Mesnil St. Denis, wo er mir auf einer steilen kurvenreichen Strecke erklärte, wie man Kurven anfährt und dann mittendrin mit Druck aufs Gas kraftvoll durchzieht.

Verbindend blieb auch immer das Städtchen Straelen am Niederrhein, wohin ihn und seine Eltern das Flüchtlingsschicksal nach dem Krieg verschlagen hatte. Es war geplant. Ostern 2017 dort noch einmal gemeinsam den berühmten viel angebauten Spargel zu essen. Die Anreise verlief für Gerd mit Sohn Patrick problematisch, und wir sahen uns dank Gabis fürsorglicher Planung noch einmal Ende November in Berlin wieder, ein paar entspannte Stunden in einem italienischen Lokal unweit der Witzlebenstraße, wo gestern in der Canisiuskirche die Trauerfeier stattfand. Einen besseren Rahmen hätte es für die zahlreichen Trauernden zum Abschiednehmen nicht geben können, ein ganz von Gerds Gefühlen und Gedanken getragener Ablauf - Worte und Musik und der Sarg inmitten einem Meer von Blumen ... O Stern und Blume .. Die letzten Orgeltöne steigen heute früh unvermittelt wieder in mir auf und rufen noch einmal die Bilder hervor, die er nun für immer mit sich fortnimmt.

Adieu Gerd

(Berichtigung: lese soeben einen Auszug aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen, vor allem Celan betreffend, den er mir mal geschickt hat. Demnach war er 1959, als er bei uns des öfteren in der rue des Ecoles war, kein Student mehr sondern sogar seine Promotion schon hinter sich und verbrachte damals fast zwei Jahre in Paris, anfangs noch als Stipendiat der Studienstiftung)

Lese in meiner Archivsammlung Gerd Neumann und wünschte, ich säße noch einmal in der rue des Ecoles und hätte 60 Jahre vor mir, all das zu vertiefen, was ich jetzt nur oberflächlich wahrnehme.

Ich sehe zufällig in unserer Bibliothek das oben erwähnte Buch von Albert Memmi Die Salzsäule stehen, mit einem Vorwort von Albert Camus. Ein Nachdruck, erschienen bei Wagenbach als Taschenbuch 2002. Die deutsche Erstausgabe brachte Kiepenheuer & Witsch, Köln 1963 heraus. Ich habe den Band nicht hier und kann nicht nachprüfen, ob auch damals schon der Übersetzer dieser 365 Seiten (TB) nicht genannt wurde. Vergleichsweise schaue ich mir die Sarraute-Bände an. Der Verlag brachte 1962 Nathalie Sarrautes Roman Porträt eines Unbekannten heraus, mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre. Auf der Innenseite immerhin: Aus dem Französischen von Elmar Tophoven / Schutzumschlag Hannes Jähn.

Ich mache einen Sprung zum Jahr 1984 mit den beiden letzten von Elmar Tophoven übersetzten Büchern von Sarraute Der Wortgebrauch und Kindheit. Da sieht das Bild anders aus: der Name des Übersetzers steht auf der Titelei und hinzugesetzt wurde auf Wunsch des Übersetzers sein Dank an alle, die sich mit Hilfe und Ratschlägen um die Übersetzung verdient gemacht haben, in erster Linie an den Lektor, in diesem Fall an die Lektorin Bärbel Flad. Er verdankte diesen Ratschlag Valery Larbaud, dessen "Übersetzerbibel" Sous l'Invocation de St.Jérôme" er 1985 mit Kollegen im Rahmen von Gemeinschaftsprojekten des Europäischen Übersetzerkollegiums in Straelen übersetzte (unveröffentlicht).

Zurück zu dem Übersetzer Gerd Neumann. Die Nennung des Namens wäre ein Aushängeschild gewesen.

Die Salzsäule von Albert  Memmi, das Buch dieses tunesischen, in der französischen Kultur aufgewachsenen Juden, der sich mit keiner dieser drei Kulturen identifizieren kann, ist von größerer Aktualität denn je.