Mein CELAN-Tagebuch

Der göttliche Schmied

20.4.2020. - In diesen Tagen denke ich fünfzig Jahre zurück und sehe meinen Mann und mich bei Gisèle Celan in der rue de Longchamp in Paris. Ein Anruf von Gisèle hatte uns alarmiert. Paul Celan, der Anfang November aus dem Quartier Latin in eine Wohnung im 15.Arr. umgezogen war, wurde gesucht, war nicht auffindbar. Über die folgenden Tage und die Umstände seines Todes ist hinreichend berichtet worden und anderswo nachzulesen.

Was mich seit Tagen beschäftigt, sind bestimmte Übungstexte, die ich erst vor kurzem unter dem ENS-Material entdeckt habe. Das Konvolut dieser Texte wurde meinem Mann von Gisèle ein oder zwei Jahre nach Celans Tod übergeben, denn wir kannten uns gut, Elmar hatte Celan mehrmals in seiner Funktion als Deutsch-Lektor an der Ecole Normale Supérieure vertreten, wenn dieser seine Kurse aus gesundheitlichen Gründen nicht abhalten konnte, und er wurde 1970 sein Nachfolger für die folgenden siebzehn Jahre, bis er 1987 von seinen Kursen direkt in das neben der ENS liegende Institut Curie hinüberwechselte: "je vais de ma turne à Saturne".

Elmar hatte Celan vermutlich schon Anfang der 50er Jahre kennen gelernt. Die deutsche Kolonie war damals noch klein, Elmar, von Mainz 1949 als erster Deutsch-Lektor nach dem Zweiten Weltkrieg, mitten aus dem Studium der Theaterwissenschaften nach Paris entsandt, hatte spätestens 1953 Gelegenheit, mit Celan bekannt zu werden. Er verdiente damals in den unbezahlten Sommermonaten seinen Unterhalt als Fremdenführer. Und so begleitete er auch eine Gruppe deutscher Schriftsteller durch Paris und von Empfang zu Empfang, wie Heinrich Böll dieses erste deutsch-französische  Schriftstellertreffen nach dem Krieg in seinem humorvollen Bericht "Rendenz-vous in Paris" schildert.

Bei einer späteren Begegnung mit Celan in einem größeren Kreis bewunderte Elmar, wie er oft erzählte, die Fähigkeit Celans, die in alle Richtungen schweifenden Gesprächsfäden immer wieder zum Wesentlichen zurückzuführen, aber leider fiel bei diesem Treffen auch  der verletzende Satz: "Ich habe diesen Herrn einmal eingeladen, er ist nicht gekommen. Ich werde ihn nicht wieder einladen." Ein Versäumnis, das nur durch schüchterne Zurückhaltung zu erklären war. Ich erinnerte mich an diese Bemerkung, als ich vor kurzem den Abdruck eines Interviews in der Süddeutschen Zeitung las, das Helmut Böttiger 1995 mit Günter Gras über seine Bekanntschaft mit Paul Celan führte. Grass lebte 1958 in Paris, besuchte den Dichter einmal mit Christoph Meckel, der etwas oberflächlich und unkonzentriert in einem Gedichtband blätterte, den Celan ihm in die Hand gegeben hatte. Celan soll ihm das Buch wieder weggenommen haben mit den nicht minder verletzenden Worten: "So liest man meine Gedichte nicht."

Als ich im Herbst 1956 nach Paris kam und schon in den ersten Tagen Elmar kennen lernte, war es nicht nur das Hörspiel "Alle die da fallen", das mich mit dem Namen und Werk von Samuel Beckett bekannt machte, den ich auch bald darauf persönlich kennen lernte, sondern es war auch der Name Paul Celan als Übersetzer von Jean Cayrols  Filmdrehbuch "Nacht und Nebel" , der wiederholt an mein Ohr drang. Elmar nahm mich bald darauf mit zu einer Vorführung des Films, nach dem mir zum ersten Mal das Ungeheuerliche der Nazijahre bewusst wurde. Es waren meine Kinderjahre, aber die Erkenntnis des Grauens so spät. In unserem Bekanntenkreis waren viele Emigranten, die zu meinem Erstaunen gern Deutsch sprachen, ein wunderbares gepflegtes Deutsch, wie ich es in Deutschland nicht mehr gehört hatte. Doch etwas lag immer zwischen uns, was selten zur Sprache kam aus Angst, an tiefe Wunden zu rühren.

Erst 1962 kam durch einen Anruf des Hanser Verlages wieder ein Kontakt zwischen Elmar und Celan zustande. Der Verlag suchte einen Übersetzer für den Roman "Le Promontoire" von Henri Thomas. Celan, so hieß es, habe mit der Übersetzung begonnen, wolle sie aber wegen einer ärgerlichen Klausel im Vertrag nicht fortführen. Mein Mann übernahm die Arbeit gerne, und der Roman erschien bald darauf unter dem Titel "Das Kap". Die Verbindung zu Celan lebte auf, und ich erinnere mich deutlich an unseren ersten Besuch im Herbst 1962 in der rue de Longchamp und die sehr freundliche spannungsfreie Atmosphäre. Celan berichtete beglückt von dem Haus, das sie vor kurzem in der Normandie erworben hatten und das wir bald näher kennenlernen durften. Es folgten Wochenendbesuche in Moisville mit unserem 2jährigen Sohn Jonas, und im  Jahr darauf, als Paul und Gisèle längere Zeit in Deutschland  waren, hüteten wir das Haus ein paar Wochen lang, wässerten die Rosenstöcke und neu gepflanzten Bäume, kämpften vergeblich gegen Maulwürfe und wachten darüber, dass der Postbote nicht die im Briefkasten nistende Vogelfamilie mit Briefeinwürfen verscheuchte.

In den folgenden Jahren kam es leider immer wieder zu zeitweiligen Verstimmungen, die Gisèle jedoch in ihrer liebenswerten ausgleichenden Art zu überbrücken verstand. Auch nach der häuslichen Trennung des Ehepaars blieben wir eng mit Gisèle verbunden. Paul sah ich nur noch selten. Elmar traf sich mit ihm anlässlich der Vertretungen in der rue d'Ulm.

In Moisville fanden die literarischen Gespräche oben in Celans Arbeitszimmer statt, während Gisèle und ich in dem großen langgestreckten Raum am Kamin saßen und Pullover für unsere Kinder strickten. Gisèle konnte wunderbar erzählen, von ihrer Familie, ihren Jugendjahren im Internat "Les Oiseaux" und einem typisch französischen aristokratischen Milieu, das mir fremd war. Wo hörte ich ein so klangvolles wortreiches Französisch, das ihr so leicht über die Lippen ging? Leider zu selten, denn wir lebten und arbeiteten als Übersetzer zuhause, gewissermaßen in einer Enklave, sprachlich immer auf das Deutsche ausgerichtet. Celan wiederum unterhielt sich mit Elmar gern auf Deutsch, ging Übersetzungen durch, die gerade in Arbeit waren, wie beispielsweise Nathalie Sarrautes Roman "Les Fruits d'Or", woraus er einen Abschnitt für seine Deutschkurse auswählte. Später dann auch ein paar Seiten aus "Entre la vie et la mort", aber das war erst in seinem letzten Jahr an der ENS 1969/1970.

Mitte der Sechzigerjahre wurden Celans Krankenhausaufenthalte häufiger und dauerten länger. Gisèle fuhr nun oft allein oder mit Eric, ihrem Sohn, nach Moisville und machte bei uns Halt, da unser Levitt-town-Haus, zwischen Versailles und Rambouillet, quasi am Wege lag. Wir hörten von ihren bedrückenden Krankenbesuchen, einem Auf und Ab zwischen Bangen und Hoffen, bis das Zusammenleben nicht mehr möglich war und es 1967 zur Trennung kam.

26.4.2020 -  Anruf einer Bekannten aus dem Breisgau, das Buch von Hans-Peter Kunisch, der uns Beide vor einem Jahr besucht hatte, sei erschienen: "TODT-NAU.BERG - die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung" - pünktlich zu Celans 50.Todestag. Wir besorgten uns das Buch und lasen es in  einem Zug, spannend wie ein Kriminalroman, wenn die beschriebenen Umstände nicht so dramatisch gewesen wären und uns persönlich so stark berührten, denn Gerhard und Brigitte Neumann, unsere engen Freunde seit über sechzig Jahren, waren bei dieser 'unmöglichen Begegnung' dabei und trugen schwer an den ungeahnten Folgen. Erst vor zwei Jahren, als Gerds Autobiografie "Selbstversuch" postum erschien, erfuhr ich Einzelheiten von den Freiburger Treffen und der legendären Fahrt zur Denkerhütte in Todtnauberg. 

1.Mai 2020 - Heute vor 50 Jahren bestätigte sich, dass Paul Celan sich in der Nacht vom 19./20. April das Leben genommen hatte. Ich greife noch einmal zu Korrespondenzen und Zeugenberichten aus seiner letzten Zeit, darunter zu dem Briefwechsel mit Ilana Shmueli, seiner engen Vertrauten seit seiner Reise nach Israel im Oktober 1969. Ich vergleiche Daten mit Terminen in der ENS. Welche Autoren, welche Textausschnitte standen auf seinem Programm in dieser Zeit? Da ist zum Beispiel ein Brief von Celan an Ilana vom 8.März 1970: "In der Ecole. Es ist Sonntag, ich habe die Texte getippt, die ich am Dienstag mit meinen Studenten übersetzen werde". Oder am 12.4.: "Vorige Woche, ich hatte den Unterricht wieder aufgenommen, wollte ich Dir sagen:  Es war ein gutes Unterrichten heute, Ilana. Wenn ich in der Ecole einen guten Tag habe, hält mich das eine Zeitlang, auch in anderen Situationen."

Dass Paul Celan in den letzten beiden Jahren nicht nur Germanistik-Studenten auf die agrégation vorbereitete, sondern auch mit Studierenden anderer Fakultäten das Lesen und Verstehen deutscher Fachtexte übte, war mir bis vor kurzem nicht bekannt. In einer schmalen Mappe mit der Aufschrift "Antiquisants 1969" fand ich fotokopierte Seiten mit Textausschnitten von

            Rudolf Schadewaldt (11900-1974): 'Die Gestalt des homerischen Sängers'  und

            Eduard Schwartz (1858-1940): 'Über das Verhältnis der Helenen zur Geschichte'.

sowie in einer Mappe ENS 7.1. einen Auszug aus 'Prometheus' von Karl Ludwig Reinhardt (1886-1958).

Es ist dieser letzte Text, vermutlich Reinhardts Aufsatzsammlung "Von Werken und Formen" (1948) entnommen, auf den ich näher eingehen will, weil er fast bis in die letzten Stunden von Celans Leben führt. Ich lese den Text und erschrecke, als ich unten auf Seite 220, von Celans Hand in grüner Tinte vermerkt, das Datum 18.4.70 entdecke. Was gibt es für Berichte über seine letzten Lebenstage? Am Donnerstag, dem 16.4., traf er Eric, mit dem er am Freitag

Abend "Warten auf Godot" im Théatre Récamier besuchen wollte. Die Eintrittskarten wurden später in Celans Brieftasche in  seiner Wohnung gefunden, denn er hatte den Theaterbesuch abgesagt. Am Donnerstag noch ein Treffen mit einem Malerfreund. Freitag, dem 17.4.? Am Samstag, dem 18.4. die letzte Lesung aus dem "Prometheus" mit seinen Gräzisten.

Celan hat mit der Prometheus-Lektüre vermutlich im Februar 1970 begonnen. Die fotokopierten Seiten, 192-226, scheinen dem Band "Von Werken und Formen" (Küpper, Godesberg 1948) entnommen zu sein und tragen den Stempel der Bibliothek der ENS. Am Rande der Fotokopie, die Celan selbst in Händen hatte, sind folgende Daten vermerkt:

            -  S. 194, mit Bleistift, 10.2.70 (Dienstag)

            - S. 198, mit Tinte, 24.2.70  (Dienstag)

            - S. 203, mit Bleistift, 4.3.70 (Mittwoch)

            - S. 206, mit Bleistift, 11.3. (Mittwoch)

            - S. 212, mit Tinte, 18.3. (Mittwoch)

            - S. 216, mit Bleistift, 8.4.70 (Mittwoch)

            - S. 220, mit grünem Stift, 18.4.70 (doppelt unterstrichen)

 An diesem letzten Tag, erstaunlicherweise einem Samstag, scheinen die "Antiquisants" nicht weiter als Seite 220 gekommen zu sein. Vorbereitet waren offensichtlich noch 1 1/2 weitere der insgesamt bis Seite 226 führenden Seiten, vorbereitet auch die entsprechenden handschriftlich aufgezeichneten deutsch-französischen Vokabellisten. Unter den letzten notierten Wörtern befindet sich das Wort "Talgründe", von Celan mit zwei Fragezeichen markiert, auf der folgenden Seite wieder aufgegriffen unter den letzten drei Wörtern als "Wiesengrund": "prairie au fond d'une vallée, vallée verdoyante". Führten ihn die Gedanken bei "Wiesengrund" vielleicht zu Theodor W.Adorno, der als Theodor Ludwig Wiesengrund 1903 in Frankfurt am Main geboren wurde?

Die Prometheus-Gestalt wurde beliebt mit der Entstehung des Geniegedankens im 18.Jahrhundert. Sein Mittelpunkt ist das Schöpferische. Und als Schöpfer, als göttlicher Schmied, wie Reinhardt ihn in seinem Text bezeichnet, mag auch der Dichter Celan sich gefühlt haben. Seine Gedichte sind wie in Stein gehauen, jedes Wort ein Schlag mit vielfachem Widerhall. Auch nach fünfzig Jahren hat man nicht alle Echos eingefangen, die jeder Kontakt mit ihnen auslöst.

Auch bei den Gedanken an den Menschen Paul Celan und an Gisèle werden Erinnerungen wach, die mein Leben bereichert haben.


Erika Tophoven